Extradimensionen – und wie man sie versteckt
Warum unser Universum zusätzlich zu Länge, Breite, Höhe weitere Raumdimensionen besitzen könnte, ohne dass wir davon im Alltag etwas merken.
Ein Artikel von Stefan Theisen
Wie viele Dimensionen hat die Welt? Die Antwort scheint klar zu sein: Eine unserer alltäglichen Grunderfahrungen ist, dass der Raum drei Dimensionen hat. Das drückt sich zum einen dadurch aus, dass wir zur genauen Bestimmung der Lage eines Punktes drei Zahlenwerte angeben müssen, beispielsweise Längengrad, Breitengrad und Höhe über dem Meeresspiegel, zum anderen dadurch, dass das Volumen eines Quaders durch Länge mal Breite mal Höhe gegeben ist. (In der Speziellen Relativitätstheorie nimmt man als vierte Koordinate noch die Zeit hinzu und spricht dann von der vierdimensionalen Raum-Zeit. Dieser Aspekt soll uns jedoch hier nicht beschäftigen.)
Wir können uns aber die Frage stellen: Wie sicher ist eigentlich, dass der Raum drei Dimensionen hat? Weniger als drei können es nicht sein, aber sind es vielleicht mehr als drei? Wenn diese Frage auch im ersten Moment absurd klingen mag, so ist sie doch seit einigen Jahren Gegenstand intensiver Forschung.
Der Raum im Großen
Stellen wir uns eine lange Schnur vor, die als Wäscheleine benutzt wird. Wir beobachten die Szene aus der Ferne und bewegen uns anschließend immer näher heran, bis wir eine kleine Ameise bemerken, die um die Schnur herumkrabbelt:
Aus einiger Entfernung erscheint die Leine als eindimensionales Objekt – als ein Strich in der Landschaft, auf dem es nur eine Bewegungsrichtung (samt Gegenrichtung) gibt – vor oder zurück entlang des Strichs (repräsentiert durch die türkisfarbigen Doppelpfeile):
Wie eine Ameise den Raum sieht
Bei genauerem Hinsehen wird dagegen deutlich, dass die Leine einen endlichen Umfang hat. Auf seiner zylinderförmigen Oberfläche können kleine Tierchen wie Ameisen oder Käfer herumkriechen, die ihre Umgebung als in zwei Dimensionen ausgedehnt erleben und die sich von jedem Punkt aus in zwei Richtungen fortbewegen können – parallel zur Richtung des Schlauchs (türkisfarbige Doppelpfeile), oder senkrecht dazu entlang seines Umfangs (schwarze Doppelpfeile):
Allerdings könnten auch die Ameisen merken, dass die zweite Dimension der Schlauchoberfläche sozusagen zusammengerollt ist: Wenn sie entlang des Umfangs wandern, dann kann es ihnen passieren, dass sie, obwohl sie ihre Richtung beibehalten, wieder zum Ausgangsort ihres Spazierganges zurückkehren – in der Ebene ist das unmöglich.
Wir können dieses Bild auf den dreidimensionalen Raum übertragen. Die Erfahrung lehrt uns, dass es lediglich drei ausgedehnte Dimensionen gibt. Aber ist es nicht möglich, dass der Raum zusätzliche Dimensionen besitzt, die, ähnlich wie beim Gartenschlauch, „aufgerollt“ sind, also nur eine endliche Ausdehnung besitzen und in sich geschlossen sind? Solange ihre Ausdehnung so klein ist, dass wir sie weder mit unseren Sinnen noch mit herkömmlichen Messinstrumenten ausloten können, ist das sicherlich eine Möglichkeit.
Tatsächlich gibt es physikalische Theorien, welche die Existenz zusätzlicher Raumdimensionen nahelegen. In der Stringtheorie beispielsweise hat die Welt natürlicherweise neun oder gar zehn Raumdimensionen. Die Möglichkeit, Dimensionen in der hier veranschaulichten Weise aufzurollen – zum Teil direkt analog zum Gartenschlauch, zum Teil in wesentlich komplizierterer Form – ist ein wichtiges Werkzeug, um aus diesen Theorien Modelle zu gewinnen, die unsere Wirklichkeit mit ihren drei Alltagsdimensionen widerspiegeln können.
Weitere Informationen
Die relativistischen Grundkonzepte, die diesem Vertiefungsthema zugrundeliegen, werden in Einstein für Einsteiger erklärt, insbesondere auf der Seite Superfäden und universelle Harmonie des Kapitels Relativität und Quanten.
Mehr zu den Extradimensionen bieten die Vertiefungsthemen Eine Frage der Sichtweise und Extradimensionen auf der Spur. Verwandte Vertiefungsthemen auf einstein-online finden sich in der Kategorie Relativität und Quanten.
Kolophon
ist Wissenschaftler und Forschungsgruppenleiter am Albert-Einstein-Institut. Sein Forschungsgebiet ist die Stringtheorie.
Zitierung
Zu zitieren als:
Stefan Theisen, “Extradimensionen – und wie man sie versteckt” in: Einstein Online Band 04 (2010), 01-1126