Der doppelte Urknall
Über die doppelte Bedeutung des Wortes „Urknall“ in der Kosmologie
Ein Artikel von Markus Pössel
Im Zusammenhang mit der modernen Kosmologie gibt es eine Unterscheidung, die Sie im Hinterkopf behalten sollten: Der Ausdruck „Urknall“ wird dort häufig mit zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet, und die Antwort auf Fragen wie „Hat der Urknall tatsächlich stattgefunden“ hängt davon ab, welche der Bedeutungen gemeint ist.
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Das Universum dehnt sich aus: Die Abstände zwischen weit voneinander entfernten Raumregionen (etwa zwischen unserer Galaxie und einem fernen Galaxienhaufen) nehmen mit der Zeit immer weiter zu. Das heißt im Umkehrschluss, dass die Galaxien in der Vergangenheit deutlich dichter zusammenlagen als heute – und zwar umso mehr, je weiter wir in die Vergangenheit vorstoßen. Auf einer Gedankenreise in die Vergangenheit würden wir zu einer Zeit vor rund 14 Milliarden Jahren ein Universum vorfinden, in dem es noch gar keine individuellen Galaxien oder Sterne gab. Damals war das gesamte Weltall mit einem homogenen Gemisch von verschiedenen Arten Materieteilchen und elektromagnetischer Strahlung gefüllt. Unter recht allgemeinen Umständen gilt: Ein Gas, das sich ausdehnen darf, kühlt dabei ab; ein Gas, das man komprimiert, wird heißer. Ähnlich mit der Materie, die zunehmend komprimiert ist, je weiter wir in die Vergangenheit zurückgehen: Im frühen Universum war die Materie tausende oder Millionen Grad heiß oder sogar noch heißer.
Wenn wir uns an den Vorhersagen von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie orientieren, mit deren Hilfe man ein einfaches, homogenes expandierendes Universum beschreiben kann, das mit Materie und Strahlung angefüllt ist, dann findet unsere gedankliche Reise in die Vergangenheit schließlich ein Ende – wir erreichen einen Zeitpunkt, über den hinaus wir die Entwicklung des Universums nicht weiter zurückverfolgen können. Zu diesem Zeitpunkt waren all die Galaxien, die wir heute um uns herum am Himmel sehen, in einer Raumregion mit dem Volumen Null zusammengepresst – sie befanden sich alle an ein und demselben Raumpunkt. Da Dichte definiert ist als Masse geteilt durch Volumen entspricht dies einer unendlich großen Dichte. In Einsteins Theorie verzerrt Materie die Geometrie von Raum und Zeit, und die Krümmung der Raumzeit war zu diesem Zeitpunkt ebenfalls unendlich groß. Im Rahmen der einfachen kosmologischen Modelle der Allgemeinen Relativitätstheorie gibt es keine Möglichkeit, über diesen Zeitpunkt hinaus weiter in die Vergangenheit zu gehen – er stellt so etwas wie eine zeitliche Grenze des Universums dar. Solche Zeitgrenzen (oder, allgemeiner, Raumzeitgrenzen) heißen Singularitäten.
Urknallsingularität und „Urknallphase“
Zeit für eine kleine Bestandsaufnahme: In den einfachen kosmologischen Modellen, die wir betrachtet haben, steht am Anfang des Universums eine Singularität, die auch „Urknall-Singularität“ oder einfach „Urknall“ genannt wird. Daran anschließend durchläuft das Universum eine Expansionsphase, während derer die Temperatur und Dichte der Materie so hoch sind, dass die heutige Physik keine näheren Aussagen darüber machen kann, was damals geschah – wir verfügen ganz einfach nicht über zuverlässige physikalische Theorien, mit denen sich die Eigenschaften von Materie unter so extremen Bedingungen beschreiben lassen.
Ein bloßes Millionstel einer Sekunde später sind wir dagegen wieder auf dem recht sicherem Boden der herkömmlichen Elementarteilchenphysik. Materie mit den entsprechenden Dichte- und Temperaturwerten kann in den heutigen Teilchenbeschleunigern erzeugt und untersucht werden, und ihr Verhalten lässt sich beschreiben, wenn man das Standardmodell der Elementarteilchenphysik verwendet (wobei Rahmenbedingungen wie die Temperatur- und Dichteentwicklung von der Allgemeinen Relativitätstheorie vorgegeben werden). Einige Sekunden später beginnt die Phase der Elemententstehung, während derer die ersten zusammengesetzten Atomkerne erzeugt werden, etwa Helium. Weitere 380.000 Jahre später ist das Universum hinreichend abgekühlt, dass es zur Entstehung der ersten stabilen Atome kommt. In den darauffolgenden rund 14 Milliarden Jahren kühlt sich das Universum immer weiter ab, Sterne und Galaxien bilden sich, und schließlich entsteht auf einem Planeten in der Nähe eines eher durchschnittlichen Sterns eine Spezies neugieriger Primaten, von denen sich einige an die ehrgeizige Aufgabe machen, mit ihren Theorien und Beobachtungen wieder ganz zum Anfang der kosmischen Geschichte vorzustoßen.
Damit haben wir sie auch schon, die beiden Bedeutungen des Wortes „Urknall“, wie in der nachfolgenden Abbildung skizziert. Die Abbildung ist beileibe nicht maßstabsgetreu; der Gang der Zeit ist von links nach rechts dargestellt, und die Expansion des Universums wird durch zunehmende Ausdehnung in senkrechter Richtung dargestellt:
Manchmal ist mit „Urknall“ die „Urknallsingularität“ gemeint – der singuläre Zeitpunkt an dem unser Universum den einfachen kosmologischen Modellen zufolge seinen Anfang nahm. Bei anderer Gelegenheit schließt „der Urknall“ die ersten Minuten oder sogar die ersten 380.000 Jahre der kosmischen Entwicklung mit ein – eine „Urknallphase“, wenn man so will (der Ausdruck „Urknallphase“ ist freilich nicht allgemein üblich), in der dann aber meistens die unsicheren ersten Sekundenbruchteile keine Rolle spielen. Zu dieser Urknallphase gehört vielfach auch ein hypothetischer Zeitraum, während dessen sich das Universum rasch und beschleunigt ausdehnte, die so genannte Inflationsphase ab etwa 10-43 Sekunden nach der Urknallsingularität.
Verglichen mit dem Alter des Universums ist der Unterschied zwischen den beiden Bedeutungen winzig – gerade so, als würde man sich darüber streiten, ob das Ende eines Meterstabes die ersten paar Hundertstel Millimeter einschließt oder nicht. Doch winzig oder nicht, es gibt Gelegenheiten, wo der Unterschied ganz entscheidend ist. Hier sind zwei Beispiele:
Was ist was?
Hat der Urknall tatsächlich stattgefunden? Wenn damit die Urknallphase gemeint ist, die heiße Frühphase der kosmischen Evolution, die sich mit unserem heutigen physikalischen Wissen gut beschreiben lässt (oder zumindest mit einer Extrapolation dieses Wissens, wenn wir die Inflation mit einbeziehen), dann gibt es überzeugende Hinweise darauf, dass der Kosmos vor rund 14 Milliarden Jahren tatsächlich eine Entwicklung durchlaufen hat, wie sie die einfachen kosmologischen Modelle beschreiben. Die wichtigsten Belege dafür sind die durch astronomische Beobachtungen erschlossenen Häufigkeiten der leichten Elemente, die Verteilung und Eigenschaften ferner Galaxien und die Existenz und Eigenschaften der so genannten kosmischen Hintergrundstrahlung.
Ob es tatsächlich eine Urknallsingularität gab, ist eine andere Frage. Die meisten Kosmologen wären sehr erstaunt, wenn sich herausstellte, dass unser Universum tatsächlich einen unendlich dichten, unendlich heißen, unendlich stark gekrümmten Anfang hatte. Üblicherweise ist der Umstand, dass ein Modell für eine bestimmte physikalische Größe unendliche Werte vorhersagt, ein Zeichen dafür, dass das Modell zu einfach ist und bestimmte Teilaspekte der Wirklichkeit außer Acht lässt. Bei den kosmologischen Modellen wissen wir auch, welche Teilaspekte das sind: Bei extrem hohen Dichten, bei denen das gesamte heute beobachtbare Universum auf ein Volumen kleiner als das eines Atomkerns zusammengepresst ist, ist zu erwarten, dass Quanteneffekte sehr wichtig werden. In den herkömmlichen kosmologischen Modellen bleiben etwaige Quanteneigenschaften von Raum, Zeit und Geometrie dagegen außen vor – sie basieren auf der klassischen Allgemeinen Relativitätstheorie, nicht auf einer Theorie der Quantengravitation. Was ändert sich, wenn man die Quanteneffekte mit einschließt? Wir wissen es noch nicht – derzeit gibt es noch keine ausgereifte Theorie der Quantengravitation. Zwar gibt es einige aussichtsreiche Kandidaten für eine solche Theorie, doch die sind noch nicht weit genug entwickelt, als dass sich daraus verlässliche Vorhersagen für die Frühzeit des Universums ableiten ließen.
Insofern gilt: Auch wenn einige Kosmologen kein Problem mit der Annahme haben, unser Universum habe mit einer Singularität begonnen, sind doch die allermeisten davon überzeugt, dass die Urknallsingularität ein Artefakt ist, das verschwinden wird, wenn wir denn erst einmal über eine hinreichend weit entwickelte Theorie der Quantengravitation verfügen. Was an die Stelle der Singularität tritt, das kann heute noch niemand mit Sicherheit sagen. In einigen Modellen kann man sehr viel weiter in die Vergangenheit gehen (ein Beispiel bietet das Vertiefungsthema Den Urknall überspringen). In anderen tritt an die Stelle der Singularität ein Anfang des Universums, der die Unendlichkeiten vermeidet, in dem die Zeit allerdings ganz andere Eigenschaften hat, als wir es gewohnt sind (weitere Informationen hierzu bietet das Vertiefungsthema Die Suche nach dem Quanten-Anfangszustand des Universums).
Andererseits: Sobald die Kosmologen davon sprechen, ein bestimmtes Ereignis habe eine Sekunde, eine Minute oder 400.000 Jahre nach dem Urknall stattgefunden, ist der Referenzzeitpunkt tatsächlich die Urknallsingularität. Der Hintergrund ist, dass die Formeln für die Ausdehnung des Universums, die sich aus den auf der Allgemeinen Relativitätstheorie basierenden kosmologischen Modellen ableiten lassen, besonders einfach sind, wenn man als Nullpunkt der kosmischen Zeit, t=0, den Zeitpunkt wählt, für den die einfachen Modelle die Urknallsingularität vorhersagen. Das ist für Rechnungen ein deutlicher Vorteil; insofern ist es sinnvoll, die kosmische Zeit so und nicht anders zu definieren.
Allerdings kann diese Definition zu Missverständnissen führen. Wer die kosmologischen Konventionen nicht kennt, könnte annehmen, dass eine Formulierung wie „eine hundertstel Sekunde nach dem Urknall“ impliziert, der Sprecher oder Autor sei der Meinung, es habe tatsächlich eine Urknallsingularität gegeben. Mitnichten – solch eine Formulierung ist eine verkürzte Sprech- und Schreibweise für „zu einer kosmischen Zeit von einer hundertstel Sekunde, wobei die kosmische Zeit so definiert ist, dass sich die Physik des frühen Universums besonders einfach beschreiben lässt“.
Weitere Informationen
Die relativistischen Grundkonzepte, die diesem Vertiefungsthema zugrundeliegen, werden in Einstein für Einsteiger erklärt, insbesondere im Abschnitt Kosmologie und im Abschnitt Relativität und Quanten.
Mehr zu Singularitäten bietet das Vertiefungsthema Raumzeitsingularitäten; Antwortmöglichkeiten auf die Frage, was, wenn es denn keine Urknallsingularität, gab zur kosmischen Zeit Null geschah, bieten Den Urknall überspringen und Die Suche nach dem Quanten-Anfangszustand des Universums. Weitere verwandte Vertiefungsthemen auf Einstein-Online finden sich in der Kategorie Kosmologie.
Kolophon
ist Astrophysiker am Max-Planck-Institut für Astronomie, Leiter des Hauses der Astronomie in Heidelberg und Initiator von Einstein Online.
Zitierung
Zu zitieren als:
Markus Pössel, “Der doppelte Urknall” in: Einstein Online Band 04 (2010), 02-1110