Elemententstehung im frühen Universum

Überblicksinformationen zur Entstehung der leichten Atomkerne kurz nach dem Urknall

Ein Artikel von Achim Weiss

Das frühe Universum der Urknallmodelle – der üblichen kosmologischen Modelle auf Basis der Allgemeinen Relativitätstheorie – war mit extrem dichter und heißer Materie gefüllt. Zu den frühesten Zeiten, die unseren heutigen physikalischen Theorien zugänglich sind, handelte es sich dabei um Strahlung und Elementarteilchen, um ein heißes Plasma bei dem die Energie gleichmäßig auf alle Bestandteile verteilt war. Während der anschließenden Expansion kühlte dieses Plasma immer weiter ab. Aus Untersuchungen, wie sich die Materiezusammensetzung des Kosmos bei diesem Abkühlen verändert hat, lassen sich einige der beeindruckendsten überprüfbaren Vorhersagen der Urknallmodelle ableiten.

Kernphysik in einem expandierenden Weltall

Während das Universum abkühlt, verändert sich sein Inhalt – aus den vorhandenen Teilchen bilden sich neue. So schließen sich beispielsweise die Quarks, die das frühe Universum bevölkern, ab einer gewissen Grenztemperatur zu Protonen und Neutronen zusammen. Zwischen etwa einer Sekunde und einigen Minuten kosmischer Zeit, wenn die Temperatur unterhalb von 10 Milliarden Kelvin gefallen ist, herrschen gerade die richtigen Bedingungen, bei denen Protonen und Neutronen sich ihrerseits zu bestimmten Arten von Atomkernen verbinden können. Dies ist die Zeit der so genannten „primordialen Nukleosynthese“ – der Elementenstehung kurz nach dem Urknall.

Wie fremd uns das frühe Universum im Vergleich mit unserer Alltagswelt auch sein mag, für die Kernphysiker ist es in einiger Hinsicht sehr vertraut: Materie mit entsprechenden Eigenschaften lässt sich unter Laborbedingungen erzeugen, und die Kernreaktionen, die sich darin abspielen, sind gut erforscht. Die Physiker bewegen sich daher auf sicherem Boden, wenn sie berechnen, welche Rolle Kernreaktionen wie die hier dargestellten im frühen Universum gespielt haben müssten:

Fusion einzelner Protonen und Neutronen zu Deuterium und dann zu Helium-3

Die Abbildung illustriert zwei der Kernreaktionen, die im Rahmen der primordialen Nukleosynthese ablaufen: Je ein einzelnes Proton und ein einzelnes Neutron verbinden sich zu einem Deuteriumkern (schwerer Wasserstoff, D); gleichzeitig wird ein hochenergetisches Photon abgegeben (in der Abbildung als γ bezeichnet). Zwei solcher Kerne verschmelzen dann zu einem leichten Kern des Elements Helium, Helium-3 (mit zwei Protonen und einem Neutron); dabei wird ein einzelnes Neutron freigesetzt.

Unter Berücksichtigung einer Vielzahl solcher Kernreaktionen und unter Benutzung der statistischen Physik lassen sich Formeln für die relative Häufigkeit der verschiedenen Sorten von Atomkernen im frühen Universum ableiten. Welche Kerne entstehen, und in welchen Mengen, ist dabei das Ergebnis einer Art von Wettrennen zwischen den verschiedenen Kernreaktionen einerseits und der fortschreitenden Abkühlung des Universums andererseits. (Details zur Physik der primordialen Nukleosynthese liefert das Vertiefungsthema Gleichgewicht und Veränderung.)

Bei solchen Rechnungen zeigt sich, dass die leichten Atomkerne im frühen Universum klar im Vorteil sind – Kerne wie die von Wasserstoff und Helium, und zwar nicht nur die Standardvarianten dieser Kerne (Wasserstoff mit einem einzigen Proton und ohne Neutronen; Helium mit zwei Neutronen und zwei Protonen), sondern auch die Isotope Deuterium (ein Proton, ein Neutron), Tritium (ein Proton, zwei Neutronen) und Helium-3 (zwei Protonen, ein Neutron). Geht man nach den Beiträgen zur Gesamtmasse, dann lag rund ein Viertel der Kernmaterie im frühen Universum in Form von Helium-4 vor. Auf Deuterium, Tritium, Helium-3 und Lithium-7 entfielen deutlich geringere Anteile zwischen einigen Tausendsteln und einigen Milliardsteln, während herkömmlicher Wasserstoff die restlichen rund drei Viertel der Kernmaterie ausmacht.

Theorie und Beobachtung

Nach Ablauf der ersten paar Minuten der Entwicklung unseres Universums bleiben die Mengenverhältnisse der gerade entstandenen leichten Atomkerne konstant – zumindest solange bis hunderte von Millionen Jahren später, die ersten Sterne entstehen. Im Inneren von Sternen laufen Fusionsreaktionen ab, bei denen unter anderem all jene Arten schwererer Atomkerne entstehen, ohne die Planeten wie unsere Erde ebensowenig existieren könnten wie die uns bekannten Lebensformen. Allerdings führt diese stellare Elemententstehung auch dazu, dass die Elementhäufigkeiten, die wir in unserer kosmischen Nachbarschaft vorfinden, nicht den Häufigkeitsverhältnissen im frühen Universum entsprechen.

Wenn Astronomen entfernte Himmelsobjekte beobachten, blicken sie immer auch in die Vergangenheit zurück. Allerdings ist es nicht möglich, auf diese Weise direkt in die Zeit der primordialen Elemententstehung zu schauen – zu jener Zeit und in den darauffolgenden rund 400.000 Jahren war das Universum komplett undurchsichtig. Stattdessen bemühen sich die Astronomen, Himmelsobjekte ausfindig zu machen, in denen die Elementhäufigkeiten den ursprünglichen Verhältnissen entweder so nahe wie möglich kommen, oder aber Rückschlüsse auf die ursprüglichen Werte zulassen. Nähere Informationen zu diesen Abschätzungen liefert das Vertiefungsthema Der Blick in die chemische Vergangenheit.

Wie bei Vergleichen von Vorhersagen und Beobachtungen zu den primordialen Elementhäufigkeiten üblich, zeigt die nachfolgende Abbildung die vorhergesagten Werte in Abhängigkeit von einem Parameter Eta, der definiert ist als die Gesamtzahl der Protonen und Neutronen im Universum, geteilt durch die Gesamtzahl der Photonen der kosmischen Hintergrundstrahlung. Eta hat die gesamte Geschichte unseres Universums hindurch nahezu den gleichen Wert und hängt direkt mit der Häufigkeit der Kernbausteine im frühen Universum zusammen. In die Rechnungen zur primordialen Nukleosynthese geht Eta als ein wichtiger Parameter ein. Die Abbildung gibt einen Überblick über die verschiedenen Vorhersagen und Beobachtungen (detailliertere Darstellungen bietet das Vertiefungsthema Der Blick in die chemische Vergangenheit):

Primordiale Nukleosynthese: Vorhersage und Beobachtung

[Nach einer Grafik von E. Vangioni, Institut d’Astrophysique de Paris]

Auf der waagerechten Achse ist der Parameter Eta aufgetragen. Verwendet wird eine logarithmische Skala; 10-9 entspricht einem Proton oder Neutron pro Milliarde Photonen, 10-8 pro hundert Millionen Photonen, und so weiter (vgl. das Stichwort Zehn-Hoch-Schreibweise). Auf der senkrechten Achse sind die Elementhäufigkeiten aufgetragen: Für Helium-4 der Anteil Y an der Gesamtmasse aller Protonen und Neutronen im Universum, für die anderen Kerne ihre Anzahl im Vergleich zur Zahl der Kerne des häufigsten Elements, Wasserstoff. Die Kurven zeigen die aus den Urknallmodellen ableitbaren Vorhersagen, die waagerechten Streifen die aus den Beobachtungsdaten folgenden Werte.

Lange Zeit war es üblich, aus dem Vergleich von Vorhersagen und Beobachtungen auch gleich auf den Wert des Parameters Eta zu schliessen. Seit einigen Jahren gibt es aber eine Möglichkeit, Eta ohne Rückgriff auf die beobachteten Häufigkeiten genau zu bestimmen. Man nutzt dabei aus, dass die Anwesenheit von Teilchen wie Protonen und Neutronen im frühen Kosmos schwache, aber nichtsdestotrotz nachweisbare Spuren in der kosmischen Hintergrundstrahlung hinterlässt. In die Abbildung ist der solchermaßen aus Messungen des Satelliten WMAP ermittelte Wert als senkrechter beiger Streifen eingezeichnet.

Wie die Abbildung zeigt, lassen sich die Vorhersagen der primordialen Nukleosynthese mit beeindruckender Genauigkeit bestätigen. Der hellblaue Streifen, der die Beobachtungswerte für Helium-4 anzeigt, ist überhaupt nur im ganz linken Abschnitt von der dunkelblauen Kurve der Vorhersage zu unterscheiden. Die zu Deuterium gehörende grüne Kurve und der hellgrüne Streifen schneiden sich fast exakt bei dem durch die WMAP-Messungen bestimmten und in goldgelb eingezeichneten Wert von Eta, und ähnlich verhält es sich mit den zu Helium-3 gehörigen Werten, der lila Kurve und dem ebenfalls in lila eingezeichneten, aus den Beobachtungen abgeleiteten Höchstwert. Nur für Lithium-7 (rot) gibt es eine deutliche Diskrepanz. In Anbetracht der Schwierigkeiten bei der Bestimmung der ursprünglichen Häufigkeit dieses Elements aus Beobachtungsdaten ist es allerdings weitaus wahrscheinlicher, dass diese Abweichung auf Wissenslücken in der Physik der Sterne hinweist als auf Mängel in unserem Bild vom frühen Kosmos. Insgesamt ergibt sich eine beachtliche Übereinstimmung – ein nicht zu unterschätzender Erfolg für die Standardmodelle der Kosmologie.

 

Weitere Informationen

Die relativistischen Grundkonzepte, die diesem Vertiefungsthema zugrundeliegen, werden in Einstein für Einsteiger erklärt, insbesondere im Abschnitt Kosmologie.

Weitere Informationen zur Physik der Elemententstehung im frühen Universum bietet das Vertiefungsthema Gleichgewicht und Veränderung; mehr zum Vergleich mit Beobachtungsdaten das Vertiefungsthema Der Blick in die chemische Vergangenheit. Verwandte Vertiefungsthemen auf Einstein-Online finden sich in der Kategorie Kosmologie.

Kolophon
Achim Weiss

ist Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching bei München, wo er sich mit der Physik der Sterne beschäftigt.

Zitierung

Zu zitieren als:
Achim Weiss, “Elemententstehung im frühen Universum” in: Einstein Online Band 02 (2006), 02-1111