Die Suche nach dem Quanten-Anfangszustand des Universums

Über Versuche, mit Hilfe verschiedener Ansätze zur Quantengravitation den Anfang unseres Weltalls zu verstehen

Ein Artikel von Jorma Louko

Angenommen, es wäre uns gelungen, eine Quantentheorie aller Grundkräfte aufzustellen, inklusive der Gravitation. Welche Fragen könnten wir hoffen, mit ihrer Hilfe zu beantworten?

Zunächst einmal sollte unsere Theorie vorhersagen, was im Innersten eines Schwarzen Loches geschieht, das beim Kollaps eines Sterns entstanden ist – in Regionen also, in denen Materie und Energie zu solch hoher Dichte zusammengepresst sind, dass Quantengravitationseffekte wichtig werden sollten. Außerdem sollte unsere Theorie vorhersagen, was vor sich geht, wenn Elementarteilchen bei so hohen Energien miteinander zusammenstoßen, dass die Quantennatur der Raumzeit die Dynamik der Teilchenreaktionen maßgeblich beeinflusst. Einigen Ansätzen zu einer Theorie der Quantengravitation zufolge könnten sich solche Energien bereits mit dem Teilchenbeschleuniger LHC erreichen lassen; aus den entsprechenden Modellen lässt sich ableiten, mit welcher Häufigkeit in diesen Beschleunigern beispielsweise Paare von winzigen Schwarzen Löchern erzeugt werden. In weniger optimistischen Theorien hat die betreffende Energie die Größenordnung der so genannten Planck-Energie und liegt damit weit jenseits aller Energien, die den mit heutiger Technologie gebauten Teilchenbeschleunigern zugänglich ist. Doch selbst solche Theorien treffen Vorhersagen, die eine technisch ungleich weiter fortgeschrittene Zivilisation in ferner Zukunft vielleicht einmal wird testen können.

Beide Beispiele haben eine wichtige Gemeinsamkeit: Ausgangspunkt ist jeweils eine Situation, die sich auch ohne eine Theorie der Quantengravitation beschreiben lässt – im ersten Falle ein herkömmlicher Stern, im zweiten zwei Elementarteilchen auf dem Weg zum Kollisionspunkt. Eine Theorie der Quantengravitation wird erst dann benötigt, wenn man beschreiben möchte, wie sich diese Situationen weiterentwickeln – wie sich die Sternmaterie im Inneren des Schwarzen Loches verhält, oder was sich in der hochenergetischen Kollisionsregion ereignet. Zusammengefasst: In beiden Beispielen lassen sich die Anfangsbedingungen mit Hilfe der klassischen Begriffe von Raum und Zeit formulieren. Eine Theorie der Quantengravitation wird erst dann wichtig, wenn man die anschließende Evolution beschreiben will.

Aber was kann uns eine Theorie der Quantengravitation zu den frühesten Stadien unseres Kosmos erzählen?

Die Notwendigkeit eines Quanten-Anfangszustands

Die Beschreibung der Gravitation, die den klassischen Urknallmodellen der Kosmologie zugrundeliegt, liefert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie. Zwar wird in diesen Modellen der Materieinhalt des Universums dort, wo es angebracht ist, mit Hilfe von Quantentheorien beschrieben. Das Wechselspiel von Quantentheorie und Gravitation bleibt dagegen außen vor. Zwar sind die Urknallmodelle bei der Beschreibung des überwiegenden Großteils der Geschichte unseres Universums sehr erfolgreich, doch stoßen sie bei der Beschreibung der allerfrühesten Entwicklungsphasen an ihre Grenzen: Direkt an der Urknallsingularität sagen sie sowohl eine unendlich große Raumkrümmung als auch eine unendlich hohe Materiedichte voraus. Solche Unendlichkeiten sind in einer physikalische Theorie inakzeptabel und zeigen an, dass man sich außerhalb des Geltungsbereiches des Modells bewegt.

Die meisten Physiker erwarten, dass sich diese Urknall-Unendlichkeiten vermeiden lassen, wenn man zu einer Theorie übergeht, in der auch die Dynamik von Raum und Zeit quantentheoretischen Gesetzen folgt – einer Theorie der Quantengravitation. Allerdings ist die Situation hier fundamental anders als in den oben genannten Beispielen. In den Anfangsphasen war das Universum durch und durch ein Quantensystem, so dass wir die Anfangsbedingung hier mitnichten in der Sprache der klassischen Physik formulieren können. Wir müssen das frühe Universum gleich von Anfang an als Quantensystem beschreiben und auch seine Anfangsbedingungen in der Sprache der Quantentheorie deffnieren. Kurz, es gilt die Grundfrage der Quantenkosmologie zu stellen: Was war der Quanten-Anfangszustand des Universums?

Die Theoretiker, die sich der Suche nach der Quantengravitation widmen, haben sich auch dieser Herausforderung gestellt, und derzeit gibt es ein gutes halbes Dutzend Vorschläge dafür, welche Eigenschaften unter den nach den Gesetzen der Quantengravitation zulässigen Quantenzuständen den Anfangszustand unseres Universums auszeichnen.

Ein Universum mit grenzenloser Vergangenheit?

Der wohl am genauesten erforschte Vorschlag für einen solchen Quanten-Anfangszustand ist die „kein Rand“-Bedingung, die James Hartle und Stephen Hawking im Jahre 1983 vorgeschlagen haben. Um zu verstehen, worum es geht, müssen wir uns als erstes an Feynmans Pfadintegralformulierung der Quantenmechanik erinnern. In dieser Formulierung ergibt sich die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Universum zunächst in einem Anfangszustand A war und später in einem Zustand B, als eine Art Summe über alle irgend denkbaren Wege, auf denen diese Entwicklung vonstatten gegangen sein könnte, wenn man so will: einer Summe über alle möglichen Geschichtsverläufe, die mit dem Zustand A beginnen und bei Zustand B enden. (Etwas ausführlichere Informationen zu Pfadintegralen bietet das Vertiefungsthema Auf allen möglichen Wegen zum Ziel.) Hartle und Hawking machten einen ganz bestimmten Vorschlag, wie der Zustand am Anfang all jener möglichen Geschichten unseres Universums beschaffen gewesen sein müsste. Um einen Eindruck von ihrem Vorschlag zu gewinnen, lohnt es, sich ein vereinfachtes Modelluniversum mit einer einzigen Raumdimension anzuschauen das sich, ausgehend von einem Anfangszustand, mit der Zeit entwickelt. Der „Raum“ in diesem Universum möge in sich geschlossen sein, wie ein zu einem Kreis zusammengeklebtes Streckenstück:

Einfacher, eindimensionaler Raum, der wie ein Kreis geformt ist

Wenn wir die Entwicklung dieses Raumes mit der Zeit darstellen, dann überstreicht dieser Kreis dabei eine Fläche, die wie eine sich stetig weitenden Röhre aussieht. Ein Beispiel zeigt das nachfolgende Bild. Dort beginnt das Universum in einem bestimmten Anfangszustand (der rot markierte, unterste Rand der Fläche) und dehnt sich anschließend immer weiter aus (verfolgt man die Entwicklung von unten nach oben, dann werden die Querschnittskreise immer größer):

Ein sich ausdehnendes Universum mit einer Grenze in der Vergangenheit

Der Anfangszustand stellt eine Art „Grenze der Vergangenheit“ dar, über die hinaus sich die Entwicklung des Kosmos nicht zu noch früheren Zeiten hin zurückverfolgen lässt.

Eine andere Möglichkeit zeigt die nachfolgende Abbildung: Darin beginnt das Universum ohne jegliche Ausdehnung, allerdings mit einer Art Spitze:

Universum mit 'spitzer Grenze' in der Vergangenheit

Der Vorschlag von Hartle und Hawking besteht darin, als Anfangszustände nur jene Zustände zuzulassen, in denen das Universum zu Beginn keinerlei Ausdehnung hat, der Beginn aber trotzdem glatt ist und keine Singularität aufweist. In unserem einfachen Modell bedeutet dies, dass die Universumsfläche ganz sanft geglättet beginnen muss, wie in der folgenden Abbildung dargestellt:

Sich entwickelndes Universum ohne begrenzte Vergangenheit und ohne Anfangssingularität

Geometrisch betrachtet heisst das: Die Anfangsbedingung – auch Randbedingung genannt – besteht darin, die Fläche möge in der Vergangenheit gar keinen Rand, gar keinen klar definierten Anfang besitzen. Die einzigen Randterme in der Pfadintegralrechnung möge die Jetztzeit sein, der Moment, in dem wir unsere Beobachtungen des Universums anstellen.

Tunneleffekt oder Symmetrie?

Ein anderer Vorschlag für die Anfangsbedingung ist wie folgt motiviert: Die klassischen Urknallmodelle sagen für die Singularität eine unendlich große Materiedichte vorher. Klassisch gesehen ist es damit unmöglich, dass das Universum zu Anfang keine Ausdehnung, aber trotzdem nur eine endliche Materiedichte gehabt haben könnte. Nun ist es aber so, dass Übergänge von einem Zustand zum anderen, die in der klassischen Physik verboten sind, in der Quantenmechanik durchaus vorkommen können – im Rahmen des so genannten Tunneleffekts. Ein klassisches Objekt, das nicht genügend Energie besitzt, einen Bergkamm zu überwinden, kann unmöglich auf die andere Seite des Kammes gelangen. Ein Quantenobjekt in derselben Situation kann dagegen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einfach verschwinden und auf der anderen Seite wieder auftauchen – gerade so, als habe sich ganz plötzlich ein Tunnel vor ihm aufgetan. Dieser Effekt spielt beispielsweise beim radioaktiven Zerfall bestimmter Atomkerne eine Rolle. Auf den Ursprung des Universums angewandt, kann man sich mit Hilfe dieses Effekts ein unendlich kleines Universum mit endlicher Materiedichte vorstellen, dessen Entwicklung hin zu einer endlich großen Vorstufe unseres heutigen Universums durch Quantentunneln seinen Anfang nimmt. Umgesetzt haben diese Idee Andrej Linde und Alexander Wilenkin mit ihrer Tunnel-Anfangsbedingung.

Ein weiterer Vorschlag beruht auf der Beobachtung, dass sich das Universum, soweit wir es überblicken, in alle Raumrichtungen gleichermaßen ausdehnt. Einige kosmologische Modelle sehen diesen Zustand als Ergebnis der dynamischen Entwicklung des Weltalls im Anschluss an die durch Quantengravitationseffekte beherrschte Frühphase. Vom Standpunkt der Quantengravitation aus kann man allerdings auch den Ehrgeiz haben, diese Isotropie direkt als Folge der Quanten-Anfangsbedingung zu erklären. Ein Ansatz dazu ist Heinz-Dieter Zehs „symmetrische Anfangsbedingung“, die für die ausdehnungslose Anfangssingularität das größte mit der Heisenbergschen Unschärferelation zu vereinbarende Maß an Isotropie fordert.

Offene Fragen

Letztendlich ist die Frage nach dem Quanten-Anfangszustand des Universums nur durch den Vergleich von Theorie und Beobachtung zu beantworten: Die Minimalforderung an den „korrekten“ Quantenzustand besteht darin, die aus ihm folgenden Vorhersagen, etwa zur Homogenität und Isotropie des Weltalls auf großen Abstandsskalen oder den winzigen Fluktuationen in den Eigenschaften der kosmischen Hintergrundstrahlung, mögen mit den vorliegenden kosmologischen Beobachtungsdaten verträglich sein. Allerdings stellt bereits die Berechnung solcher Vorhersagen bei vorgegebenem Quanten-Anfangszustand eine gewaltige Herausforderung dar. Zwei Gründe sind dafür ausschlaggebend – ein eher technisches und ein konzeptuelles Problem.

Das technische Problem besteht ganz einfach darin, dass man für die Ableitung solcher Vorhersagen auf Basis eines vorgegebenen Quantenzustandes diejenigen Gesetze der Quantengravitation unter Kontrolle haben muss, die regeln, wie sich ein Zustand mit der Zeit weiterentwickelt. Was die derzeitigen Ansätze für eine Theorie der Quantengravitation betrifft, so verstehen wir diese Gesetze zwar dann hinreichend gut, wenn wir Modelle betrachten, die in bestimmter Weise vereinfacht sind. Die Vereinfachung wird dabei vorgenommen, bevor wir von der klassischen zu einer Quantengravitation übergehen: Betrachtet werden einfache Modelluniversen, deren Eigenschaften bereits im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie von nur wenigen Parametern abhängen. Ein Beispiel dafür ist ein perfekt homogenes Universum, dessen Materiedichte in jedem Raumpunkt dieselbe ist. In solch einem Universum wird die Materieverteilung durch einen einzigen Parameter beschrieben, nämlich durch die durchschnittliche Materiedichte. Im Gegensatz dazu sind unendlich viele Parameter vonnöten, um die Materiedichte im wirklichen Universum zu beschreiben, in dem die Materiedichte von Raumpunkt zu Raumpunkt variieren kann. Wieweit die Quantenversion eines solch vereinfachten Universums mit nur wenigen Parametern Rückschlüsse auf die Quantendynamik des wirklichen Universums mit seinen unendlich vielen Parametern zulässt, ist derzeit noch unklar.

Das konzeptuelle Problem betrifft eine zentrale Eigenschaft der Quantentheorie. Bis auf wenige Ausnahmen wird in allen Anwendungen der Quantentheorie eine zweigeteilte Welt betrachtet: Auf der einen Seite spielen dort vergleichsweise kleine Quantensysteme eine Rolle (etwa ein Molekül oder kollidierende Elementarteilchen), auf der anderen Seite Messinstrumente (etwa Teilchendetektoren), deren Funktionsweise sich weitgehend verstehen lässt, ohne auf die Quantenphysik zurückzugreifen. Das Standardverfahren, um aus den Gesetzen der Quantentheorie Vorhersagen abzuleiten, beruht wesentlich auf dieser Zweiteilung der Welt in Quantensystem und Messinstrument. In der Quantenkosmologie dagegen wird das Universum als Ganzes als Quantensystem betrachtet. Damit ist es notwendig zu verstehen, wie sich aus der Quantentheorie Vorhersagen ableiten lassen, wenn der Beobachter selbst Teil des Quantensystems ist, das er beobachtet. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre haben sich diese Frage betreffend interessante Querverbindungen zwischen der Quantenkosmologie und bestimmten Laborexperimenten ergeben, in denen sich ein Quantensystem von einem Ende eines Zimmers zum anderen oder in einem neueren Experiment sogar quer über die Donau erstreckt.

 

Weitere Informationen

Die Grundlagen von relativistischer Teilchenphysik und Quantengravitation werden in Einstein für Einsteiger erklärt, insbesondere in den Abschnitten Relativität und Quanten und Kosmologie.

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Kolophon
Jorma Louko

ist Associate Professor an der Universität Nottingham. Dort forscht er auch zu Themen aus dem Bereich Quantengravitation, und insbesondere zu Fragen der Quantenkosmologie.

Zitierung

Zu zitieren als:
Jorma Louko, “Die Suche nach dem Quanten-Anfangszustand des Universums” in: Einstein Online Band 04 (2010), 02-1114