Vom Äquivalenzprinzip zur Lichtablenkung

Wie sich aus dem Äquivalenzprinzip Rückschlüsse auf die Lichtablenkung im Schwerefeld ziehen lassen.

Ein Artikel von Markus Pössel

Am Anfang von Einsteins Entwicklung seiner Allgemeinen Relativitätstheorie steht das Äquivalenzprinzip. Vereinfacht ausgedrückt besagt es: Ein Beobachter in einer kleinen Kabine kann nicht unterscheiden, ob er samt Kabine in einer schwerefreien Raumregion schwebt, weitab von allen Gravitationsquellen, oder ob sich seine Kabine im freien Fall in einem Gravitationsfeld befindet. Insbesondere sind alle physikalischen Gesetze im Kabineninneren in guter Näherung die gleichen wie im schwerefreien Raum, also wie die Gesetze der Speziellen Relativitätstheorie.

Auch ohne weitere Kenntnis der Allgemeinen Relativitätstheorie lassen sich direkt aus dem Äquivalenzprinzip einige grundlegende Eigenschaften der Gravitation ableiten – unter anderem der Umstand, dass Gravitation die Lichtausbreitung beeinflusst!

Fahrstuhlkabine und Licht: Die Innenansicht

Betrachten wir eine Fahrstuhlkabine, die knapp über der Erdoberfläche frei nach unten fällt. Zu Beginn unseres Experiments möge sich die Kabine gerade noch in Ruhe befinden; zu diesem Zeitpunkt schießen wir von außen durch ein Loch in der Kabine einen kurzen Puls Laserlicht waagerecht ins Innere der Kabine. Wie bewegt sich der Laserpuls weiter?

Aus Sicht eines Beobachters im Kabineninneren, der mit der Kabine frei nach unten fällt, ist die Antwort einfach. Er kann sich, Äquivalenzprinzip sei Dank, an die Gesetze der Speziellen Relativitätstheorie halten: Licht bewegt sich geradlinig mit konstanter Geschwindigkeit. Licht, das waagerecht in die Kabine eintritt, wird sich relativ zur Kabine auch waagerecht weiterbewegen. Ist gegenüber dem Eintrittsloch auf gleicher Höhe ein weiteres Loch in die Kabinenwand gebohrt, wird das Licht die Kabine durch dieses Loch wieder verlassen, wie hier zu sehen:

Laserpuls fliegt geradlinig von links nach rechts durch Fahrstuhlkabine

Der Laserpuls ist dabei als roter Punkt eingezeichnet; die Lichtgeschwindigkeit wurde künstlich verlangsamt, damit das bloße Auge dem Licht folgen kann; der Puls hinterlässt in dieser Animation eine Spur, anhand derer sich sein Bahnverlauf überblicken lässt.

Kabine und Licht, von außen gesehen

Sobald wir wissen, wie sich das Licht aus Sicht des Beobachters im Kabineninneren bewegt, können wir auch ableiten, was ein äußerer Beobachter wahrnimmt.

Das Licht läuft zunächst waagerecht – aus Sicht beider Beobachter, die sich zum Zeitpunkt der Lichtaussendung relativ zueinander in Ruhe befinden. Zu Anfang unserer Betrachtung befand sich der Lichtpuls mit dem Ein- und dem Austrittsloch in den Kabinenwänden auf gleicher Höhe. Doch bis das Licht weit genug nach rechts gelaufen ist, um das Austrittsloch zu erreichen, ist die Kabine bereits ein Stück gefallen. Das Licht kann dementsprechend aus Sicht des äußeren Beobachters gar nicht entlang einer Geraden gelaufen sein. Eine Gerade, die waagerecht beginnt, setzt sich auch waagerecht fort, ohne an Höhe zu verlieren. Stattdessen ergibt sich das folgende Bild:

Laser an Wand, der Licht in fallende Fahrstuhlkabine schickt

Zur besseren Anschauung ist die Lichtgeschwindigkeit dabei wieder künstlich heruntergesetzt; der Laserpuls erscheint als roter Punkt und zieht eine Spur hinter sich her.

Die Zeit, die das Licht zum Durchqueren der Kabine benötigt, ist dabei so gering, dass die Kabine eine im Vergleich mit der Lichtgeschwindigkeit nur äußerst geringe Fallgeschwindigkeit erreicht. Unter solchen Umständen lassen sich der Fall der Kabine und die Parabelbahn des Lichts in ausreichender Näherung mit Hilfe der klassischen Mechanik berechnen, in der Kabine und Licht“teilchen“ mit konstanter Beschleunigung gen Erdboden fallen.

Durch die künstlich herabgesetzte Lichtgeschwindigkeit ist die Parabel sehr deutlich zu sehen. In Wirklichkeit ist sie ungleich flacher – wenn wir annehmen, dass Eintritts- und Austrittsöffnung der Kabine anderthalb Meter auseinanderliegen, würde das Licht beim Durchqueren des Fahrstuhls gerade einmal um einen Zehntel Billionstel Millimeter fallen, entsprechend einem Bruchteil eines Atomkerndurchmessers.

Lichtablenkung im Großen?

In unseren Überlegungen bietet die fallende Fahrstuhlkabine lediglich ein geeignetes Bezugssystem, von dem aus gesehen die Lichtausbreitung besonders einfach ist. An keiner Stelle dagegen beeinflusst die Kabine die Lichtausbreitung – unser Schluss, dass Licht im Schwerefeld abgelenkt wird, bleibt damit auch dann gültig, wenn keine Fahrstuhlkabine in der Nähe ist. Auch dann wird Licht im Schwerefeld abgelenkt.

Allerdings beziehen sich unsere Überlegungen bislang zwangsläufig nur auf einen sehr kleinen Raumbereich. Nur für solch einen kleinen Raumbereich können wir annehmen, dass aus Sicht eines frei fallenden Beobachters in hinreichend guter Näherung die Gesetze der Speziellen Relativitätstheorie gelten, und die Lichtausbreitung geradlinig erfolgt.

Für Überlegungen, wie sich der Ablenkungseffekt nachweisen ließe, ist statt dieser lokalen allerdings im wesentlichen die globale Lichtablenkung interessant – die Lichtablenkung im Großen, also etwa die Frage, wie beispielsweise das Licht eines fernen Sternes, das nahe an der Sonne vorbeistreicht, bevor es einen Beobachter hier auf der Erde erreicht, insgesamt abgelenkt wird.

Lässt sich unser Argument verallgemeinern um abzuleiten, wie Licht über größere Distanzen hinweg abgelenkt wird? Im Prinzip ja – wir müssen nur den Raum, den das Licht durchquert, in schmale Bereiche einteilen. In jedem dieser Raumbereiche lassen wir unsere imaginäre Fahrstuhlkabine herunterfallen um zu bestimmen, wie weit das Licht abgelenkt wird – so ergibt sich die Ablenkung, die das Licht insgesamt erfährt:

Euklidisch aneinandergeklebte Raumstreifen; eingezeichnet ist ein Lichtstrahl, der um insgesamt 37,1 Grad abgelenkt wird

Freilich täuscht diese Abbildung darüber hinweg, dass in solch eine Konstruktion einige stillschweigende Annahmen eingehen. Jeder Fahrstuhl liefert uns das Verhalten des Lichts in einem bestimmten schmalen Raumstreifen. Wie fügt man diese Raumstreifen zusammen, um den Raum als Ganzes zu erhalten? Die Antwort hängt von der Geometrie des Raumes ab. Tatsächlich kann man die Raumgeometrie geradezu als die Antwort auf die Frage definieren, wie sich winzig kleine Raumbereiche zu einem großen Ganzen zusammenfinden.

Davon, wie die Raumstreifen zusammengeklebt werden, hängt aber auch das Ausmaß der Lichtablenkung ab. In die obige Abbildung ging die Annahme ein, dass der Raum die aus der Schule gewohnte euklidische Geometrie besitzt. Ebenso kann es aber sein, dass die Raumgeometrie es erforderlich macht, die aneinandergrenzenden Raumbereiche beim Verkleben in bestimmter Weise gegeneinander zu „verkanten“ – analog zu dem Umstand, dass man eine unregelmäßig gekrümmte Oberfläche nicht mit einem quadratischen Gitter von Fliesen auslegen kann, sondern dasss die Fliesen in geeigneter Weise zugeschnitten werden müssen.

Eine Möglichkeit besteht darin, dass die Raumbereiche so miteinander verklebt sind, wie hier gezeigt:

Fliesenartig aneinandergeklebte Raumstreifen, bei denen die Raumkrümmung der Lichtablenkung entgegenwirkt; eingezeichnet ist ein Lichtstrahl, der um insgesamt 27.7 Grad abgelenkt wird

Für jeden einzelnen Raumbereich ist dabei die Richtung eingezeichnet, in die der dort befindliche imaginäre Fahrstuhl fällt („unten“). In diesem Falle wird der Lichtstrahl verbogen, aber in gewisser Weise biegt sich der Raum „unter dem Lichtstrahl weg“ – ähnlich wie die Flugrichtung des Lichtes ändert sich auch die Fallrichtung des Fahrstuhls. Die Bezugsrichtungen „nach unten“ und „waagerecht“ verändern sich von einem Streifen zum nächsten so, dass die Lichtablenkung insgesamt geringer ist als im euklidischen Falle. Wie am rechten Rand eingezeichnet, ist das Licht am Ende deutlich geringer gegenüber der Waagerechten des letzten Streifens (die als dünne blaue Linie eingezeichnet ist und nicht der Waagerechten der Illustration entspricht!) abgelenkt.

Auch der umgekehrte Fall ist möglich, in dem die Raumkrümmung die Lichtablenkung noch verstärkt wie in der nachfolgenden Abbildung skizziert:

Fliesenartig aneinandergeklebte Raumstreifen, bei denen die Raumkrümmung die Lichtablenkung verstärkt; eingezeichnet ist ein Lichtstrahl, der um insgesamt 48,3 Grad abgelenkgt wird

Hier biegt sich der Raum „der Lichtkrümmung entgegen“: Die waagerechte Richtung und die nach unten zeigende Richtung verändern sich von einem Streifen zum nächsten so, dass der Lichtstrahl am Ende gegenüber der Waagerechten des letzten Streifen deutlich stärker abgelenkt ist als im euklidischen Fall.

Erst bei Kenntnis der Raumgeometrie lassen sich daher Aussagen zur großräumigen Lichtablenkung treffen.

Im Rahmen der vor-Einsteinschen Physik ist es durchaus naheliegend anzunehmen, dass die Geometrie des Raumes euklidisch sei. Aus den obigen Überlegungen ergibt sich dann ein Wert für eine „Newtonsche Lichtablenkung“ beispielsweise von Sternenlicht am Sonnenrand, der allein auf das Äquivalenzprinzip zurückzuführen ist.

In Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie dagegen krümmt Masse den umgebenden Raum so, dass der Lichtablenkungseffekt ähnlich wie im dritten unserer Verklebungsbeispiele verstärkt wird. Bezieht man diesen Effekt ein, dann ergibt sich für die Lichtablenkung am Sonnenrand ein doppelt so großer Wert wie im Newtonschen Falle, zu dem das Äquivalenzprinzip und die Raumkrümmung zu gleichen Teilen beitragen.

Der zweite unserer Verklebungsfälle, bei dem die Raumkrümmung die Lichtablenkung abschwächt, ist heutzutage nur noch von historischem Interesse: Zeitgleich mit frühen Arbeiten zu dem, was wir heute Allgemeine Relativitätstheorie nennen, bemühte sich der finnische Physiker Gunnar Nordström, eine mit der Speziellen Relativitätstheorie verträgliche Gravitationstheorie zu schaffen. In dem, was Wissenschaftshistoriker heute „Nordströms zweite Theorie“ nennen, gilt das Äquivalenzprinzip, aber der Raum ist genau so gekrümmt, dass die sich daraus ergebende Lichtablenkung gerade ausgeglichen wird.

Zusammenfassend liefert das Äquivalenzprinzip Hinweise darauf, dass auch Licht von der Gravitation beeinflusst wird. Auch Einstein hat sich bei der Entwicklung seiner Allgemeinen Relativitätstheorie von solchen Überlegungen leiten lassen und postuliert, dass Licht in der Nähe von Massen abgelenkt wird. Ob dem tatsächlich so ist, lässt sich allerdings erst klären, wenn man über das Äquivalenzprinzip hinausgeht und Aussagen zur Raumgeometrie trifft.

 

Weitere Informationen

Dieses Vertiefungsthema ergänzt die Aussagen im Abschnitt Allgemeine Relativitätstheorie von Einstein für Einsteiger.

Die Grundlagen des Äquivalenzprinzips werden im Vertiefungsthema Kabine, Schwerkraft und Rakete: Das Äquivalenzprinzip geschildert. Weitere verwandte Vertiefungsthemen auf Einstein-Online finden sich in der Kategorie Allgemeine Relativitätstheorie.

Ein Fachartikel, der sich mit der wichtigen Unterscheidung von lokaler und globaler Lichtablenkung beschäftigt, ist

J. Ehlers und W. Rindler, „Local and Global Light Bending in Einstein’s and other Gravitational Theories“ in General Relativity and Gravitation 29 (1997), S. 519-529.

Kolophon
Markus Pössel

ist Astrophysiker am Max-Planck-Institut für Astronomie, Leiter des Hauses der Astronomie in Heidelberg und Initiator von Einstein Online.

Zitierung

Zu zitieren als:
Markus Pössel, “Vom Äquivalenzprinzip zur Lichtablenkung” in: Einstein Online Band 04 (2010), 02-1120