Kabine, Schwerkraft und Rakete: Das Äquivalenzprinzip

Näheres zu dem Prinzip, das am Anfang von Einsteins Überlegungen zu Relativität und Gravitation stand

Ein Artikel von Markus Pössel

Im Jahre 1905 hatte Albert Einstein mit seiner Speziellen Relativitätstheorie eine neue Grundlage für die physikalischen Gesetze der geschaffen. Ein Teilgebiet der Physik vertrug sich allerdings partout nicht mit den neuen Ideen von Raum und Zeit: Die Gravitationskraft, beschrieben durch das Newtonsche Gravitationsgesetz. Die Spezielle Relativitätstheorie schien lediglich den Rahmen für gravitationsfreie Physik zu schaffen. Erst Jahre später gelang es Einstein mit einer ganz neuen Theorie, der Allgemeinen Relativitätstheorie, auch die Gravitation in ein neues Bild von Raum und Zeit einzuordnen. Der erste Schritt auf dem Weg zu dieser neuen Theorie bestand in der Erkenntnis, dass es selbst in einem Gravitationsfeld Bezugssysteme gibt, in denen die Spielregeln der gravitationsfreien Physik gelten, und damit die Physik der Speziellen Relativitätstheorie – zumindest näherungsweise und solange man seine Betrachtungen auf einen kleinen Ausschnitt von Raum und Zeit beschränkt. Dieser Umstand ergibt sich aus dem von Einstein formulierten Äquivalenzprinzip, und das wiederum hängt mit besonderen Eigenschaften des freien Falls zusammen.

In der Kabine

Wir wollen die hier bereits angedeuteten Komplikationen („näherungsweise“, „kleiner Ausschnitt“) zunächst vernachlässigen und zunächst eine vereinfachte Version des Äquivalenzprinzips entwickeln – mithilfe der folgenden einfachen Gedankenexperimente:

Nehmen Sie an, Sie befinden sich in einer geschlossenen Kabine, abgeschnitten von der Außenwelt. Körper, die Sie fallen lassen, fallen beschleunigt zu Boden, genau so, wie Sie es von der Erde gewohnt sind. Können Sie daraus schließen, dass Sie sich samt Kabine tatsächlich in einem Schwerefeld wie jenem der Erde befinden, wie in der folgenden Abbildung skizziert?

Kabine, auf der Erde stehend

Nein, denn alles könnte auch ganz anders sein. Theoretisch könnten Sie sich auch im Weltraum befinden, weit entfernt von allen größeren Massenansammlungen und deren Gravitationseinfluss. Dann nämlich, wenn Ihre Kabine sich an Bord einer Rakete befindet, die durch ihr Triebwerk gerade mit 9,81 Metern pro Sekunde-Quadrat beschleunigt wird, wie hier skizziert:

Rakete, beschleunigend

In solch einer Situation würde der Kabinenboden auf alle Objekte, die Sie loslassen, zubeschleunigt – mit genau der gleichen Beschleunigung, mit der die Gravitation Objekte hier auf der Erde zu Boden fallen lässt. Aus Ihrer Sicht als Beobachter in der Kabine sind die beiden Situationen – die Gravitation lässt Objekte beschleunigt zu Boden fallen, der Kabinenboden bewegt sich beschleunigt auf Objekte zu – nicht unterscheidbar.

(Nachtrag 26.4.2014: Was passiert dabei mit Objekten, die aufsteigen, wenn man sie auf der Erde loslässt – etwa mit einem Heliumballon? Auch hier gilt die Äquivalenz, wie dieses schöne YouTube-Video zeigt. Im einen wie im anderen Falle wird der Heliumballon von den nach unten beschleunigten Luftmolekülen aufwärts gedrängt und bewegt sich daher entgegen der Gravitationskraftwirkung bzw. in die Richtung, in die das Raumschiff von außen gesehen beschleunigt.)

Schwerelosigkeit in der Kabine

Ebenso verhält es sich mit der Schwerelosigkeit. Angenommen, Sie schweben frei in der Kabine, und um Sie herum schweben auch alle anderen Körper frei in der Gegend herum – können Sie daraus schließen, dass Sie sich in so gut wie gravitationsfreier Umgebung befinden, im Weltraum, weit entfernt von allen Sternen, Planeten und sonstigen großen Massen?

Rakete, schwebend

Wieder ist die Antwort Nein. Es könnte schließlich sein, dass Sie und die Kabine sich sehr wohl im Gravitationsfeld einer Masse befinden, etwa in jenem der Erde, allerdings im freien Fall. Da Sie, die Kabine und alle Gegenstände in diesem Gravitationsfeld in gleicher Weise beschleunigt werden, ist in der Kabine selbst keine Wirkung der Gravitation zu spüren. Relativ zur Kabine behalten die in trauter Eintracht fallenden Gegenstände und auch Sie ihre relativen Positionen getreulich bei. Auch Sie selbst fühlen sich schwerelos. Im Alltag fühlen Sie die Schwerkraft schließlich dadurch, dass sie Ihren Körper in Richtung Fußboden, nach unten zieht. In der Kabine dagegen fallen Ihr Körper und der Kabinenboden nebeneinander her:

Fahrstuhlkabine im freien Fall

Tatsächlich ist dies die Art von Schwerelosigkeit, wie wir sie beispielsweise von den Astronauten auf der Internationalen Raumstation ISS kennen. Raumstation und Besatzung haben ja nicht etwa das Schwerefeld der Erde hinter sich gelassen – in der Flughöhe der Raumstation hat die Erdschwerkraft immerhin noch 90 Prozent jener Stärke, die wir von der Erdoberfläche kennen. Die Schwerelosigkeit der Astronauten kommt dadurch zustande, dass sie sich mitsamt ihrer Station im freien Fall befinden. Zwar nicht im freien Fall direkt auf die Erde zu, aber immerhin im freien Fall um die Erde herum – auf einer Erdumlaufbahn.

Keine Unterscheidung möglich?

Zumindest am Verhalten frei fallender Körper kann man demnach nicht entscheiden, ob man sich in einem Schwerefeld befindet oder nicht. Ob Körper beschleunigt zum Kabinenboden fallen, ist eine Frage des Bezugssystems: Selbst in einer gravitationsfreien Raumregion fallen Körper zu Boden, wenn an der Kabine ein Raketentriebwerk angebracht ist, das die Kabine beschleunigt. Selbst in einem Schwerefeld schweben Körper frei im Raum, wenn es sich bei der Kabine um ein frei fallendes System handelt. Einstein gelangte zu der Überzeugung, dass diese Unfähigkeit zur Unterscheidung nicht nur für Beobachtungen an fallenden Körpern, sondern für beliebige physikalische Messungen gilt. Mit keinem Experiment, anhand keines physikalischen Gesetzes, so postulierte er, kann man feststellen, ob man sich beispielsweise im gravitationsfreien Raum oder in einer fallenden Kabine im Schwerefeld befindet. Das ist Inhalt des so genannten Äquivalenzprinzips. Anders formuliert bedeutet das: In jedem frei fallenden Bezugssystem gelten dieselben physikalischen Gesetze, wie sie auch in der gravitationsfreien Physik gelten, sprich: in der Physik der Speziellen Relativitätstheorie. Diese Form des Äquivalenzprinzips wird auch oft Einstein’sches Äquivalenzprinzip genannt, im Gegensatz zum so genannten schwachen Äquivalenzprinzip, der Aussage, dass alle Körper, die sich an ein und demselben Ort im Gravitationsfeld befinden, gleich schnell fallen.

So weit, so gut, aber auch: so vereinfacht. Strenggenommen gelten die bislang getroffenen Aussagen zur Äquivalenz von Gravitation und Beschleunigung nur in einem absolut homogenen Gravitationsfeld. In solch einem Gravitationsfeld werden tatsächlich alle frei fallenden Körper in gleicher Weise beschleunigt, also in die gleiche Richtung und gleich stark. Ein Forscher im Inneren einer abgeschlossenen Kabine kann tatsächlich nicht zwischen dieser Gravitationsbeschleunigung und der Beschleunigung etwa durch ein Raketentriebwerk unterscheiden. Wirkliche Gravitationsfelder sind aber immer in irgendeiner Weise inhomogen. Nehmen wir die Gravitationswirkung der Erde. Hier auf der Oberfläche der im Vergleich zu uns riesigen Erdkugel sind wir gewohnt: Körper fallen zu Boden, und wenn wir von Effekten wie der Luftreibung absehen geschieht dies immer mit derselben Beschleunigung und immer in die gleiche Richtung, eben „nach unten“. Aber wenn wir etwas genauer hinsehen, stimmt das nicht ganz. Deutlich wird das, wenn wir beispielsweise die folgende riesenhafte Fahrstuhlkabine betrachten, die mitsamt zweier ebenfalls riesenhafter Bälle auf die Erde zufällt:

Gigantische Fahrstuhlkabine, darin zwei Kugeln, im freien Fall erdwärts.

Hier wird sichtbar: Kabine und Bälle fallen eben nicht parallel zueinander her, sondern auf ein und denselben Punkt zu, eben den Erdmittelpunkt. Für den Beobachter in der fallenden Kabine äußert sich das darin, dass sich die Bälle ganz leicht aufeinander zu bewegen. Dies ist ein so genannter Gezeiteneffekt. An solchen Effekten kann bei genauerer Beobachtung auch ein frei fallender Beobachter feststellen, dass er sich in einem (inhomogenen) Gravitationsfeld und nicht im gravitationsfreien Raum befindet. Genauer gesagt lautet das Äquivalenzprinzip also: In jedem frei fallenden Bezugssystem gelten dieselben physikalischen Gesetze wie in der Speziellen Relativitätstheorie solange Gezeiteneffekte vernachlässigt werden können.

Tatsächlich kann man noch etwas konkreter angeben, wie sich Gezeiteneffekte klein halten lassen. Zum einen, indem man seine Betrachtungen auf eine sehr kleine Raumregion beschränkt – dass die Gezeiteneffekte in der obigen Animation so deutlich sichtbar sind, liegt nicht zuletzt an der im Vergleich zur Erde großen Entfernung der beiden Bälle. Wer hier auf dem Erdboden zwei Körper einige Meter voneinander entfernt fallen lässt, wird den Effekt kaum nachweisen können. Zum zweiten spielt der Beobachtungszeitraum eine Rolle. Wer die Bälle in der Animation nur über einen sehr kurzen Zeitraum beobachtet, hat große Schwierigkeiten, festzustellen, dass sie sich einander annähern. Es gibt daher zusätzlich zum Äquivalenzprinzip als nützlicher Orientierungshilfe noch eine exakte Formulierung, die da besagt: In unendlich kleinen („infinitesimalen“) Raumzeitbereichen lässt sich immer ein Bezugssystem finden – eine unendlich kleine frei fallende Kabine, über einen unendlich kurzen Beobachtungszeitraum hinweg betrachtet – in der dieselben physikalischen Gesetze gelten wie in der Speziellen Relativitätstheorie. Wenn man nur die Kabine genügend klein und den Beobachtungszeitraum genügend kurz wählt, kann man auch die Abweichung der physikalischen Gesetze im Kabineninneren von denen der Speziellen Relativitätstheorie beliebig gering werden lassen.

Weitere Informationen

Dieses Vertiefungsthema ergänzt die Aussagen im Abschnitt Allgemeine Relativitätstheorie von Einstein für Einsteiger.

Eine entscheidende Voraussetzung für die Gültigkeit des Äquivalenzprinzips wird im Vertiefungsthema Träge und Schwere Masse besprochen. Wie sich bereits aus der Kombination von Äquivalenzprinzip und Spezieller Relativitätstheorie interessante physikalische Vorhersagen ergeben, zeigt an einem Beispiel das Vertiefungsthema Vom Äquivalenzprinzip zur Lichtablenkung. Wie das Äquivalenzprinzip die Voraussetzung für Einsteins geometrische Beschreibung der Gravitation schafft, ist Inhalt des Vertiefungsthemas Gravitation: Vom Fahrstuhl zur Raumzeitkrümmung. Weitere verwandte Vertiefungsthemen auf Einstein Online finden sich in der Kategorie Allgemeine Relativitätstheorie.

Kolophon
Markus Pössel

ist Astrophysiker am Max-Planck-Institut für Astronomie, Leiter des Hauses der Astronomie in Heidelberg und Initiator von Einstein Online.

Zitierung

Zu zitieren als:
Markus Pössel, “Kabine, Schwerkraft und Rakete: Das Äquivalenzprinzip” in: Einstein Online Band 04 (2010), 01-1111