Zwillinge und Wanderer

Wie man sich die Situation des raumreisenden Zwillings anhand einer einfachen geometrischen Analogie veranschaulichen kann

Ein Artikel von Markus Pössel

Die wohlbekannten Zwillinge: Einer davon steigt in eine Rakete und unternimmt einen fast lichtschnellen Weltraumflug. Wenn er anschließend zur Erde zurückkehrt, ist dieser Zwilling deutlich jünger als derjenige Zwillingsbruder, der auf der Erde blieb. Ein deutliches Beispiel für eine der grundlegenden Konsequenzen der Speziellen Relativitätstheorie: Wie schnell oder langsam Zeit vergeht, hängt davon ab, wie man sich bewegt.

Gleichberechtigte Zwillinge?

Kann der reisende Zwilling den Spieß einfach umdrehen? Erklären, er befände sich in Ruhe? Die Erde sei es, die sich gerade von seinem Raumschiff entfernt habe und dann zurückgekehrt sei? Und der auf der Erde verbliebene Zwilling müsste daher der jüngere von beiden sein? Nein, denn es gibt ein Kriterium, anhand dessen man die Zwillinge unterscheiden kann: Der Zwilling im Raumschiff hat beim Umkehren eine deutliche Beschleunigung gespürt (entweder beim Abbremsen und wieder schneller werden, oder als er für seine Kehrtwende um die Kurve flog) der daheimgebliebene Zwilling nicht. (Näheres dazu im Vertiefungsthema Die problematischen Zwillinge.)

Aber was genau ist die Rolle dieser Beschleunigung? Ist der reisende Zwilling vielleicht deswegen jung geblieben, weil die Zeit für ihn während der Beschleunigungsphase besonders langsam verging?

Mitnichten. Die wirkliche Rolle der Beschleunigung lässt sich am besten anhand einer analogen Situation verstehen, in der es nicht um Zeitintervalle geht, sondern um Längen.

Das geometrische Analogon der Beschleunigung

Nehmen wir zwei Wanderer, Wolfgang und Verena, die vom Ort A zum Ort B wandern. Verena nimmt den direkten geraden Weg. Wolfgang macht einen Umweg über den dritten Ort C (das allerdings auch entlang gerader Wege). Die folgende Abbildung zeigt die Wege der beiden:

Dreieck von Wegen: A nach B und A nach C nach B

Wenn die Wanderer sich in B wiedertreffen, hat Wolfgang, der über C ging, offenbar eine längere Wegstrecke zurückgelegt als Verena. Das hängt direkt damit zusammen, dass Wolfgang auf seiner Wanderung einmal seine Richtung geändert hat, Verena dagegen nicht.

Ist die zusätzliche Weglänge irgendwo „am Ort der Richtungsänderung konzentriert“? Würde die Anzeige eines Entfernungsmessers, den Wolfgang mit sich führt, plötzlich wie wild hochzuzählen beginnen, während er um die Ecke biegt? Eine absurde Vorstellung. Die Richtungsänderung enthält keinen versteckten, komprimierten Vorrat an Wegstrecke. Sie ist lediglich dafür verantwortlich, dass die beiden (insgesamt längeren) Teilstrecken von Wolfgangs Weg so aneinander passen können, dass er am Ende trotzdem bei B anlangt.

Damit zurück zu den Zwillingen. Wir betrachten nur die einfachste Möglichkeit des Zwillingseffekts: Der reisende Zwilling entfernt sich mit konstanter Geschwindigkeit von der Erde, bremst dann ab, beschleunigt in Richtung Erde und fliegt anschließend mit konstanter Geschwindigkeit zur Erde zurück.

Den Weglängen, die die beiden Wanderer zurücklegten, entsprechen die Zeitintervalle, die für die beiden Zwillinge zwischen Start und Landung des Raumschiffs vergingen. Ungewohnt ist dabei: Längere Weglängen entsprechen nicht längeren, sondern kürzeren Zeitintervallen. Unmittelbar einsichtig ist dies nicht. Es folgt aber direkt aus den zugrundeliegenden Formeln und gilt ganz allgemein, wenn man Analogien zwischen einem Raum (in dem es nur Raumrichtungen gibt) und einer Raumzeit (mit Raumrichtungen und einer Zeitrichtung) betrachtet.

Wolfgangs zwei gerade Wegstücke entsprechen den beiden Phasen, während derer der reisende Zwilling mit konstanter Geschwindigkeit fliegt – erst von der Erde fort, dann zurück in Richtung Erde. Die Beschleunigung (Geschwindigkeitsänderung) des raumfahrenden Zwillings entspricht der Richtungsänderung von Wolfgang. Ein komplizierterer Flug des Zwillings (mit längeren Brems- und Beschleunigungsphasen) würde einer kurvenreichen Route entsprechen, die Wolfgang von A nach B führt.

(Man kann die Analogie noch weiter treiben und etwa ein Analogon zur Gleichzeitigkeit definieren. Sogar die wechselseitige Zeitdilatation lässt sich mit dieser Analogie verstehen – siehe das Vertiefungsthema Zeitdilatation und Wanderer.)

So lässt sich auch die Rolle der Beschleunigung für das Jünger bleiben des reisenden Zwillings besser einordnen. Es ist nicht so, dass dessen Uhren in der Beschleunigungsphase besonders langsam gingen, und dass so der letztendliche Altersunterschied zustande käme – ebensowenig, wie die zusätzliche Länge von Wolfgangs Wanderweg in dem kurzen Wegstück konzentriert ist, auf dem er seine Richtung ändert. Stattdessen hat die Beschleunigung dieselbe Funktion wie die Ecke in einem Dreieck. Die Ecke bei C ist unbedingt nötig, will man von A aus zwei längere Wegstücke so zusammenfügen, dass man am Ende trotzdem bei B ankommt. Die größere Gesamtlänge ergibt sich aber als Summe über eben diese längeren Wegstücke – der Beitrag der Ecke ist vernachlässigbar klein. Die Beschleunigungsphase ist unabdingbar, will man zwei zeitverkürzte Bewegungsphasen, die insgesamt kürzer sind als die Zeit, die für den daheimgebliebenen Zwilling vergeht, so zusammenfügen, dass die Zwillinge am Ende doch wieder zusammentreffen. Aber die kürzere Gesamtzeit ergibt sich aus der Summe der Zeiten für diese beiden Bewegungsphasen, den Hin- und Rückweg des Zwillings – wie die Beschleunigungsphase seine Uhr beeinflusst, ist vernachlässigbar.

 

Weitere Informationen

Die hier angesprochenen Fragen gehören zur Speziellen Relativitätstheorie, die in Einstein für Einsteiger im Abschnitt Spezielle Relativitätstheorie vorgestellt wird.

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Kolophon
Markus Pössel

ist Astrophysiker am Max-Planck-Institut für Astronomie, Leiter des Hauses der Astronomie in Heidelberg und Initiator von Einstein Online.

Zitierung

Zu zitieren als:
Markus Pössel, “Zwillinge und Wanderer” in: Einstein Online Band 04 (2010), 01-1108