Die Unselbstverständlichkeit des Jetzt

Warum es nötig ist, den Begriff der Gleichzeitigkeit zu definieren und wie man dabei vorgehen kann

Ein Artikel von Markus Pössel

Gleichzeitigkeit ist etwas so Selbstverständliches, dass wir im Alltag kaum je darüber nachdenken. Dabei ist bei genauerem Hinsehen gar nicht so klar, wie man feststellen kann, ob zwei Ereignisse, die an unterschiedlichen Orten im Raum stattfinden, gleichzeitig geschehen oder nicht.

Herumgetragene Uhren

Aus dem Alltag sind wir eine einfache Lösung gewohnt: Wir tragen Uhren mit uns herum. Wenn ich meine Armbanduhr mit der Standuhr zu Hause abgleiche, dann gehe ich anschließend davon aus: Gleichzeitig, beispielsweise um 12 Uhr, finden ein Ereignis A bei mir zu Hause und ein Ereignis B an meinem jetzigen Standort statt, wenn die Standuhr bei Ereignis A die Anzeige 12 Uhr hat, und meine Armbanduhr beim Ereignis B ebenfalls 12 Uhr anzeigt. Aber wer die Zeit ganz genau misst – oder sich im Weltraum auf eine fast lichtschnelle Raumschiffreise begibt – merkt bald, dass Bewegung den Gang von Uhren durchaus beeinflussen kann. Selbst mit einer ideal genau gehenden Armbanduhr gilt: Allein dadurch, dass ich die Uhr den Tag über bewege, unterscheidet sich ihr Zeitmaß, wenn ich abends nach Hause zurückkomme, ein wenig von dem der daheimgebliebenen Uhr – einer der Zeitdehnungseffekte der Speziellen Relativitätstheorie. Bewegung beeinflusst Uhren – wer prinzipiell festlegen will, was Gleichzeitigkeit ist, sollte sich daher nicht auf das einfache Herumtragen von Uhren verlassen.

Vergleich mit Hilfe von Licht

Als nächstes könnte man darauf kommen, das Licht als Informationsträger einzusetzen. Ich kann zum Beispiel versuchen, die Anzeige zweier Uhren miteinander zu vergleichen, indem ich eine Spezialkamera beide Anzeigen auf ein und dasselbe ultrakurz belichtete Foto bannen lasse, wie in der folgenden Abbildung angedeutet:

Uhrenvergleich Kamera links

Wenn auf meinem Foto beide Uhren exakt in der 12-Uhr-Stellung sind – heißt das, dass sie synchron gehen, dass sie beide gleichzeitig dieselbe Zeit anzeigen? Im Gegenteil – sehen sie auf dem Foto exakt gleich aus, kann ich davon ausgehen, dass sie nicht synchron laufen. Das Licht, das mir das Aussehen der rechten Uhr zuträgt, benötigt schließlich ein winziges bisschen Zeit, um zu mir zu gelangen. Wenn es gleichzeitig mit der Anzeige „12 Uhr“ der linken Uhr auf dem Foto eintrifft, dann muss die rechte Uhr bereits etwas früher 12 Uhr angezeigt haben als die linke.

Abhilfe schafft eine Anordnung mit einer Doppelkamera exakt in der Mitte zwischen den beiden Uhren, die die Bilder der beiden Uhren Seite an Seite auf demselben Foto festhält. Sie ist hier skizziert:

Uhrenvergleich Doppelkamera

Jetzt ist die Situation symmetrisch, das Licht sollte von der linke bis zur rechten Uhr gleich lange benötigen, um die Kamera zu erreichen, und wenn die Uhren auf dem Foto dieselbe Anzeige haben, dann heißt das tatsächlich, dass sie gleichzeitig dieselbe Zeigerstellung eingenommen haben.

Oder? Dieses Argument gilt natürlich nur, wenn das Licht von der linken Uhr zur Mitte genau so schnell gelaufen ist wie das rechte Uhr zur Mitte. Woher wissen wir, dass die Geschwindigkeit des Lichts in alle Richtungen dieselbe ist? Man könnte meinen, das sei einfach nachzumessen, aber das stimmt nicht. Um beispielsweise zu messen, wieviel Zeit Licht von einem Ort A zu einem anderen Ort B braucht, muss ich am Start wie am Ziel eine Uhr zur Verfügung haben und messen, wann das Licht losgeflogen und wann es angekommen ist. Daraus eine Zeitdifferenz zu bilden, um zu bestimmen, wie lange das Licht unterwegs war, ergibt aber nur einen Sinn, wenn die Uhren am Start und am Ziel miteinander synchronisiert sind, sprich, gleichzeitig dieselbe Zeit anzeigen – und da beißt sich die Schlange in den Schwanz, denn wir wollen ja gerade erst festlegen, wie man Gleichzeitigkeit bestimmt. Messen kann man die Lichtgeschwindigkeit ohne einen Gleichzeitigkeitsbegriff allenfalls auf Rundwegen, also dort, wo Start und Ziel am selben Ort liegen und man beim Messen der Laufzeit mit einer einzigen Uhr auskommt – zumindest bei solchen Rundwegen kommt tatsächlich heraus, dass sich das Licht immer mit derselben konstanten mittleren Geschwindigkeit bewegt.

Eine Frage der Definition

Auflösen lässt sich der Teufelskreis, wenn man erkennt, dass Gleichzeitigkeit nichts ist, was naturgegeben wäre und sich direkt aus Experimenten ableiten ließe. Gleichzeitigkeit muss man definieren – und es liegt nahe, diese Definition mit dem Licht zu beginnen. Wenn es sich überall dort, wo wir seine Geschwindigkeit messen können (nämlich auf Rundwegen) so verhält, als liefe es mit konstanter Geschwindigkeit,dann liegt es nahe, die Gleichzeitigkeit so zu definieren, dass das Licht sich auch von A nach B mit konstanter Geschwindigkeit bewegt. Damit hätten wir uns für die oben bereits am Beispiel der Uhren beschriebene Gleichzeitigkeitsdefinition entschieden: Zwei Ereignisse finden genau dann gleichzeitig statt, wenn sie auf demselben Foto derjenigen Doppelkamera zu sehen sind, die exakt in der Mitte zwischen ihnen angebracht ist.

Einsteins berühmtes Postulat von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, das am Anfang seiner Formulierung der Speziellen Relativitätstheorie steht, ist damit doppelschichtig. „Die Lichtgeschwindigkeit ist für jeden Beobachter (genauer: Inertialbeobachter) konstant“: Das ist zum einen ein experimentell überprüfbares Postulat, dort nämlich, wo es die konstante Geschwindigkeit des Lichtes auf Rundwegen vorhersagt sowie den Umstand, dass die Geschwindigkeit des Lichts von der Bewegung der Lichtquelle unabhängig ist. Doch darin verbirgt sich auch eine ganz und gar nicht zwangsläufige Konvention – eine ganz bestimmte Definition der Gleichzeitigkeit nämlich, dieselbe, die ich oben vorgestellt habe.

Aus den Grundpostulaten der Speziellen Relativitätstheorie lässt sich ableiten, dass die so definierte Gleichzeitigkeit vom Bezugssystem abhängt. Wenn wir es insbesondere mit zwei Doppelkameras zu tun haben, die sich relativ zueinander bewegen, dann hängt im allgemeinen von der Wahl der Kamera ab, ob zwei Ereignisse als gleichzeitig gemessen werden oder nicht. Dies hat direkte Konsequenzen dafür, wie Beobachter Längen und Zeitintervalle messen; auch solche Messungen, so zeigt sich, hängen in der Speziellen Relativitätstheorie von der Bewegung desjenigen ab, der die Messungen vornimmt. Auf diese Weise führt die Erkenntnis, dass Gleichzeitigkeit nichts gegebenes ist, sondern erst einmal definiert werden muss, zu den revolutionärsten Vorhersagen der Speziellen Relativitätstheorie.

 

Weitere Informationen

Auf der hier geschilderten Definition basiert die Spezielle Relativitätstheorie, die in Einstein für Einsteiger im Abschnitt Spezielle Relativitätstheorie vorgestellt wird.

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Kolophon
Markus Pössel

ist Astrophysiker am Max-Planck-Institut für Astronomie, Leiter des Hauses der Astronomie in Heidelberg und Initiator von Einstein Online.

Zitierung

Zu zitieren als:
Markus Pössel, “Die Unselbstverständlichkeit des Jetzt” in: Einstein Online Band 04 (2010), 01-1101