Zeitbestimmung mit Radiosignalen – von der Funkuhr zur Satellitennavigation

Wie man mit Hilfe eines Radioempfängers (und einiger Zusatzinformationen) jederzeit und überall den genauen Zeitpunkt bestimmen kann

Ein Artikel von Markus Pössel

Herkömmliche Funkuhren in Deutschland besitzen einen Empfänger für das Zeitsignal des Langwellensenders DCF77 in Mainflingen bei Frankfurt am Main, das von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt gesteuert wird. Dabei handelt es sich um ein Taktsignal – ein Radiosignal, dessen Stärke (genauer: dessen Amplitude) periodisch absinkt um zu zeigen, dass eine neue Sekunde begonnen hat, wie hier skizziert:

Zeitsignal mit Sekundentakt

Der Anfang des Absinkens steht dabei für den Sekundenschlag. Das Signal enthält aber noch weitere Informationen. Wie in der obigen Abbildung zu sehen, gibt es kürzere und längere Absinkintervalle (ein oder zwei Zehntelsekunden lang). Ähnlich wie in der Folge von Nullen und Einsen im Binärcode eines Computers oder in der Punkt-Strich-Folge einer Nachricht im Morsecode ist in dieser Folge von kürzeren und längeren Pulsen im Laufe einer Minute unter anderem verschlüsselt, in welcher Minute die Funkstelle das betreffende Zeitsignal ausgesandt hat (um welche Sekunde in dieser Minute es sich handelt, muss die Funkuhr dann selbst zählen – sie erkennt den Beginn einer neuen Minute daran, dass das Absinken der Signalstärke bei der neunundfünfzigsten Sekunde unterbleibt). In dem obigen Beispiel zeigt die Folge lang-lang-kurz-kurz-lang-kurz-lang gerade an, dass das Zeitsignal sich auf Stunde 13 bezieht. Die Funkuhr kann daher ohne dass man sie per Hand nachstellen müsste immer die richtige Zeit anzeigen. Auch das Umschalten auf Sommer- und Winterzeit geschieht automatisch.

Funkuhren und die Frage der Gleichzeitigkeit

Aber ist die Anzeige der Funkuhr wirklich ganz exakt? Wer die Grundlagen der Speziellen Relativitätstheorie im Hinterkopf hat, insbesondere Einsteins Definition der Gleichzeitigkeit, wird schnell auf die Antwort kommen: Nein, ohne Hilfestellung geht die Funkuhr immer ein wenig nach. Denn wenn ich meine Funkuhr beispielsweise 300 Kilometer von Mainflingen entfernt aufgestellt habe, dann empfängt sie das Zeitsignal, das für die Uhrzeit 12:00:00,000 Uhr steht, erst eine tausendstel Sekunde später, also um 12:00:00,001 Uhr. Der Grund: Das Radiosignal, das sich mit der üblichen Lichtgeschwindigkeit von rund 300.000 Kilometern pro Sekunde bewegt, benötigt eine Tausendstel Sekunde, um vom Sender zum Empfänger zu gelangen. Während meine Uhr gemäß dem gerade empfangenen Signal 12:00:00,000 Uhr anzeigt, ist es in Wirklichkeit bereits 12:00:00,001 Uhr. Zugegeben, eine so genaue Zeitmessung wird im Alltag selten benötigt. Aber hier soll es ums Prinzip gehen.

Für Uhren an einem festen, bekannten Ort ist die Lösung einfach. Wenn wir wissen, wo wir sind, und wenn wir außerdem wissen, dass das Radiosignal die Zeit Δt benötigt, um uns zu erreichen, dann genügt es, die Anzeige unserer Funkuhr konstant um Δt vorzustellen, und die Uhr zeigt fortan die korrekte Zeit an. Im obigen Beispiel: Wenn wir unsere Funkuhr so programmieren, dass sie bei Empfang eines bestimmten Zeitsignals t immer die Zeit Δt anzeigt, wobei Δt gleich einer Tausendstel Sekunde ist, dann gilt: Bei Empfang des Zeitsignals 12:00:00,000 Uhr zeigt unsere Funkuhr 12:00:00,001 Uhr an, also in Anbetracht der Laufzeit des Radiosignals die korrekte Zeit.

Funkempfänger auf Reisen

Schwieriger wird es, wenn wir unsere Uhr mit auf die Reise nehmen wollen, ohne dabei genau zu wissen, wo wir uns zu einem bestimmten Zeitpunkt befinden. Doch auch hier lässt sich Abhilfe schaffen. Stellen Sie sich der Einfachheit halber vor, Sie wüssten bereits, dass Sie sich auf der Verbindungslinie zwischen zwei Radiosendern S1 und S2 befinden, von denen jeder ein Zeitsignal ausstrahlt:

Zwei Sender mit Verbindungslinie

Szenario 1: Sie besitzen bereits eine perfekte Uhr, die mit den Referenzuhren der Radiosender synchronisiert ist. Dann reicht bereits der Empfang eines einzigen Zeitsignals aus, um Ihre Position auf der Geraden zu bestimmen, zumindest wenn jedes Zeitsignal die Information trägt, wann und wo es abgesandt wurde. Wenn nämlich das Zeitsignal des Sender S1, das um 10:45:00,000 Uhr abgesandt wurde, bei Ihnen um 10:45:00,002 Uhr ankommt – die Ankunftszeit lesen Sie von Ihrer eigenen Uhr ab -, dann hat das Radiosignal offenbar zwei Tausendstel Sekunden benötigt, um zu Ihnen zu gelangen. In dieser Zeit legt ein Licht- oder eben auch ein Radiosignal 600 Kilometer zurück. Sie sind demnach 600 Kilometer von dem Radiosender S1 entfernt. Schlagen Sie auf der Landkarte um den Ort von S1 einen Kreis, dessen Radius 600 Kilometern entspricht. Dort, wo dieser Kreis die Verbindungslinie der Funksender schneidet, ist Ihre Position. Dasselbe können Sie natürlich auch mit dem anderen Radiosender S2 machen – in meinem Beispiel sind Sie 900 Kilometer vom zweiten Sender entfernt, wie in der folgenden Abbildung gezeigt. Natürlich muss der entsprechende Kreis (hier nur ausschnittsweise zu sehen) um die zweite Funkstation die Verbindungsgerade am gleichen Ort schneiden, eben an Ihrem Standort:

Szenario 2: Dieselben Ortsverhältnisse, aber nun besitzen Sie lediglich eine Uhr, die nicht sehr genau geht. Nehmen wir an, im Vergleich zu den Atomuhren am Standort der Funksender ginge Ihre Uhr um eine tausendstel Sekunde vor. Sie wissen dies aber nicht, sondern verwenden die Anzeige ihrer Uhr weiterhin, um ihren Standort zu bestimmen. Dann passiert folgendes. Ein bestimmtes Zeitsignal wird um 13:00:00,000 Uhr von S1 aus abgeschickt. Es erreicht Sie zwei Tausendstel Sekunden später, nämlich um 13:00:00,002 Uhr. Ihre Uhr geht nun aber, wie gesagt, eine Tausendstel Sekunde vor, zeigt bei der Ankunft des Signals also 13:00:00,003 Uhr an. Aus dem Vergleich der im Zeitsignal enthaltenen Informationen zur Absendezeit des Signals und jener Ankunftszeit, die Sie auf Ihrer Uhr ablesen, kommen Sie daher zu dem Fehlschluss, das Signal habe ganze 3 tausendstel Sekunden benötigt, um Sie zu erreichen, und die Funkstation S1 sei demnach 900 Kilometer von Ihnen entfernt. Dass Ihre Uhr eine tausendstel Sekunde vorgeht hat dazu geführt, dass Sie den Abstand zur Funkstation um 300 Kilometer überschätzen – also gerade um die Distanz, die Licht in dieser tausendstel Sekunde zurücklegt. Um genau diese Distanz würden Sie auch alle anderen Abstände zu Funkstationen überschätzen. Wenn ein Signal der zweiten Funkstation S2 um 13:00:00,000 Uhr abgeschickt wird und um 13:00:00,003 Uhr bei Ihnen eintrifft, dann lesen Sie auf Ihrer Uhr fälschlicherweise den Eintreffzeitpunkt 13:00:00,004 Uhr ab und schließen daraus, das Signal sei 4 tausendstel Sekunden unterwegs gewesen und S2 folglich 1200 Kilometer entfernt. Wenn Sie nun wieder zur Landkarte greifen und Kreise schlagen, ergibt sich das folgende Bild:

Zwei Sender mit Verbindungslinie: Positionsbestimmung mit Uhr, die vorgeht

Ihre Uhr geht vor, Sie überschätzen alle Entfernungen und schlagen demnach zu große Kreise, die die Verbindungsgerade in zwei verschiedenen Punkten schneiden. Ein klarer Hinweis darauf, dass etwas schiefgelaufen sein muss, denn eigentlich sollten sich die Kreise in einem einzigen Punkt mit der Verbindungsgeraden schneiden, eben Ihrer Position.

Szenario 3 entspricht Szenario 2, bis auf dem Unterschied, dass Ihre Uhr nun nicht eine tausendstel Sekunde vor-, sondern eine tausendstel Sekunde nachgeht. Wenn Sie Ihre Uhr verwenden, um auf Lichtlaufzeiten zu schließen, führt der Gangfehler dazu, dass Sie alle Laufzeiten um eine tausendstel Sekunde unterschätzen. Auch alle Abstände unterschätzen Sie um die gleiche Distanz, nämlich um 300 Kilometer, und das führt auf der Landkarte zu folgendem falschen Bild:

 

Zwei Sender mit Verbindungslinie: Positionsbestimmung mit Uhr, die nachgeht

Diesmal haben beide Kreise einen zu geringen Radius. Wieder wird deutlich, dass etwas schiefgelaufen ist, da die Kreise die Verbindungsgerade an zwei verschiedenen Punkten schneiden anstatt an einem einzigen.

Der entscheidende Schritt besteht darin, dass die Kreise nicht nur anzeigen, dass etwas schiefgelaufen ist, sondern direkt darauf schließen lassen, um welches Zeitintervall Ihre Uhr falsch geht. Charakteristisch für das Falschgehen ist, dass alle Abstände um die gleiche Distanz unter- oder überschätzt werden. Wenn wir auf der Landkarte wie in der obigen Abbildung Kreise sehen, deren Schnittpunkte mit der Verbindungsgerade nicht zusammenfallen, weil die Radien zu klein sind, dann können wir im Geiste diese Radien um dieselbe Distanz ein wenig verlängern, so weit, dass die Schnittpunkte gerade zusammenfallen. Die Strecke, um die wir beide Radien verlängern mussten, sagt uns direkt, um wieviel unsere Uhr nachgeht – mussten wir beide Radien um 300 Kilometer verlängern, geht unsere Uhr eine tausendstel Sekunde nach, sind 600 Kilometer Verlängerung nötig, geht sie um zwei tausendstel Sekunden nach, und so weiter. In genau derselben Weise können wir bei Kreisen, die zu groß sind, die Radien im Geiste verkürzen, bis die Schnittpunkte zusammenfallen, und aus der nötigen Verkürzung bestimmen, um wieviel unsere Uhr vorgeht.

Systematische Korrekturen

Damit sind wir nach einem notwendigen Exkurs in die Positionsbestimmung wieder bei unserem Ausgangsproblem angelangt, dem der Zeitbestimmung. Denn wenn wir wissen, um wieviel unsere Uhr gegenüber den Atomuhren am Standort der beiden Funkuhren vor- oder nachgeht, können wir den Fehler kompensieren, und dann zeigt unsere Uhr exakt die Zeit dieser Atomuhren an.

Nun müssen wir lediglich noch eine entscheidende Konsequenz aus den letzten beiden Szenarien ziehen: Die falschgehenden Uhren trugen darin zu unserer Zeitbestimmung keinerlei Information bei. Genauso wie dort beschrieben könnte man auch für eine stehengebliebene Uhr den Korrekturterm „angezeigte Zeit minus wahre Zeit“ und damit den Eintreffzeitpunkt der Signale bestimmen. Das angegebene Verfahren funktioniert auch, wenn wir an unserem Aufenthaltsort gar keine Uhr zur Verfügung haben: Für zwei Zeitsignale der beiden Funkstationen, die gleichzeitig bei uns eintreffen, könnten wir auch ganz ohne vorherige Anhaltspunkte rekonstruieren, wann sie bei uns eintreffen. Denn sagen wir, das Signal der ersten Station trägt die Information, es sei um 14:30:00,002 Uhr ausgesandt worden, dass der zweiten Station um 14:30:00,001 Uhr. Wir wissen, dass die beiden Stationen voneinander 1500 Kilometer entfernt sind. Angenommen, die Signale träfen um 14:30:00,003 Uhr bei uns ein. Dann wäre das erste eine tausendstel Sekunde unterwegs gewesen, entsprechend 300 Kilometern, das zweite zwei Tausendstel Sekunden, entsprechend 600 Kilometern. In der Summe ergibt das 900 Kilometer, also deutlich kleiner als der Funkstationsabstand – die hypothetischen Entfernungskreise sind also viel zu klein, unser geschätzter Zeitpunkt liegt zu früh. Andererseits angenommen, die Signale wären um 14:30:00,005 Uhr eingetroffen. Dann wäre die erste Funkstation 900 Kilometer entfernt, die zweite gar 1200 Kilometer. In der Summe deutlich größer als der wahre Abstand der Stationen von 1500 Kilometer – die hypothetischen Entfernungskreise sind zu groß, der von uns geschätzte Zeitpunkt liegt zu spät. Damit haben wir den wirklichen Zeitpunkt bereits eingegrenzt. Tatsächlich lässt er sich aus der Bedingung, dass die beiden Entfernungskreise die Verbindungsgerade in ein und demselben Punkt schneiden, exakt bestimmen – in unserem einfachen Beispielfall sogar mit recht einfacher Mathematik: Die Rechnung ist exakt dieselbe wie bei jener berühmt-berüchtigten Schulaufgabe bei der bestimmt werden soll, zu welchem Zeitpunkt sich zwei Züge, die von gegebenen Bahnhöfen zu gegebenen Zeiten losfahren, auf der Strecke treffen. Wenn wir dann den Ankunftszeitpunkt der Signale kennen, können wir natürlich auch unseren Standpunkt bestimmen – den Ort, wo sich die beiden Entfernungskreise schneiden.

Unser Beispiel war mit Bedacht sehr einfach gewählt: Wir wussten bereits, dass wir uns auf der Verbindungsgerade zwischen den beiden Funkstationen befinden. So reichte in dem Szenario, in dem wir eine perfekte Uhr besaßen, ein einziges Zeitsignal, eine einzige Entfernungsbestimmung aus, um unseren Ort zu bestimmen (den Schnittpunkt von Entfernungskreis und Verbindungsgerade). Ohne Uhr reichte der Empfang von zwei Zeitsignalen aus, um aus der Bedingung, die Schnittkreise möchten die Verbindungsgerade am gleichen Ort schneiden (eben unserem Standort), sowohl die Ankunftszeit der Signale als auch unseren Standort zu bestimmen. Aber auch ohne das Wissen, dass wir uns auf einer bestimmten Geraden befinden, hätten wir Funksignale verwenden können, um die Abstände zu den Funksendern und daraus sowohl unsere Position wie auch den exakten Ankunftszeitpunkt der Signale zu bestimmen. So funktioniert Satellitennavigation, etwa das Global Positioning System GPS. Statt stationärer Sendestationen hat man es dort mit Satelliten zu tun, deren Bahnen (und damit ihre Positionen im Raum) genau bekannt sind. Einige Details liefert das Vertiefungsthema Relativität und Satellitennavigation; hier soll uns vor allem interessieren, dass mit diesen Satelliten genau wie in unserem einfachen Beispiel auch Zeitbestimmung möglich ist: Wer eine perfekte Uhr besitzt, muss die Signale von drei Satelliten empfangen, um seine Position auf der Erde zu bestimmen. Wer eine ungenaue oder gar keine Uhr besitzt, der kann, wenn er die Zeitsignale von vier geeigneten Satelliten empfängt, ähnlich vorgehen wie oben beschrieben: Er kann in Gedanken um jeden der vier Satelliten eine Kugelfläche ziehen (analog zu den Entfernungskreisen im obigen Beispiel). Aus der Forderung, diese vier Kugelflächen sollten sich in einem einzigen Punkt im Raum schneiden – eben dem Standort des Beobachters – lässt sich sowohl die Zeit des Eintreffens der Signale rekonstruieren als auch der gesuchte Standort.

Auf diese Weise bieten Satellitennavigationssysteme wie GPS heutzutage die genauesten Möglichkeiten zur Zeitbestimmung überhaupt. Mit Einsteins Theorien hat das gleich auf mehrere Arten und Weisen zu tun: Die Grundidee leitet sich direkt aus der Gleichzeitigkeitsdefinition ab, die Einstein mit seiner Speziellen Relativitätstheorie eingeführt hat. Für eine präzise Ausführung – darauf geht das bereits erwähnte Vertiefungsthema Relativität und Satellitennavigation ein – müssen Effekte sowohl der Speziellen wie der Allgemeinen Relativitätstheorie berücksichtigt werden. Das Verfahren selbst wird dann seinerseits wieder zur Erforschung der Einsteinschen Theorie genutzt: Um die Daten der verschiedenen Gravitationswellendetektoren weltweit zu vergleichen zu können, wird ihr zeitlicher Verlauf genau protokolliert – die dazu nötige hochpräzise Uhrzeit liefert das Satellitennavigationssystem GPS.

 

Weitere Informationen

Die relativistischen Grundkonzepte, die diesem Vertiefungsthema zugrundeliegen, werden in Einstein für Einsteiger erklärt, insbesondere im Abschnitt Spezielle Relativitätstheorie.

Verwandte Vertiefungsthemen auf Einstein-Online finden sich in den Kategorien Spezielle Relativitätstheorie und Allgemeine Relativitätstheorie.

Mehr zur Zeitbestimmung mit Funkuhren gibt es auf den Webseiten der Arbeitsgruppe „Zeitübertragung“ der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt

Kolophon
Markus Pössel

ist Astrophysiker am Max-Planck-Institut für Astronomie, Leiter des Hauses der Astronomie in Heidelberg und Initiator von Einstein Online.

Zitierung

Zu zitieren als:
Markus Pössel, “Zeitbestimmung mit Radiosignalen – von der Funkuhr zur Satellitennavigation” in: Einstein Online Band 01 (2005), 01-1110