Von E = mc² zur Atombombe

Was Einsteins berühmteste Formel mit Kernfusion, Kernspaltung und Atombombe zu tun hat – und was nicht

Ein Artikel von Markus Pössel

Für viele Übersichtsartikel zu Einstein gilt: Wer E = mc² sagt, muss auch Atombombe sagen. Allerdings wird der Zusammenhang allzu oft recht irreführend beschrieben. Dann nämlich, wenn die Rede davon ist, die große Zerstörungskraft dieser Waffe „basiere“ auf der „Umwandlung von Masse in Energie“, die in Einsteins Formel ausgedrückt würde, wobei die beachtliche Größe des Umrechnungsfaktors c2 für das enorme Ausmaß der Energiefreisetzung verantwortlich sei.


Zehn Sekunden nach der Zündung des ersten Kern-
waffentests, Neu-Mexiko, 16. Juli 1945
[Bild: Los Alamos National Laboratory]

Zunächst einmal: (relativistische) Masse und Energie sind bei Einstein zwei unterschiedliche Beschreibungsformen ein und derselben Größe. Hat ein System die Energie E, dann besitzt es automatisch die relativistische Masse m=E/c2; hat ein System die Masse m, dann muss man ihm eine Energie E=mc2 zuschreiben. Wer die Masse eines Systems festlegt, legt automatisch auch seine Energie fest; wer seine Energie kennt, kennt auch seine Masse. Von einer „Umwandlung“ zwischen diesen beiden Größen zu reden, ist unsinnig – wo die eine ist, ist automatisch auch die andere.

Was sich hinter der Kurzfassung „Masse in Energie umwandeln“ verbirgt, erschließt sich erst, wenn man verschiedene Arten von Energie betrachtet. Umwandlungsprozesse von einer Energiesorte in die andere spielen bereits in der klassischen Physik eine entscheidende Rolle: Zum Begriff der Energie gehört ein Sammelsurium von Definitionen der verschiedenen Energiesorten – die Bewegungsenergie eines Körpers etwa, die Strahlungsenergie elektromagnetischer Strahlung, die Wärmeenergie oder die Bindungsenergie, die man einem System von Körpern zuschreiben muss, das durch eine Kraft zusammengehalten wird. Erst die Möglichkeit, die verschiedenen Arten von Energie ineinander umzuwandeln – etwa einen Körper aufzuheizen, indem man ihm elektromagnetische Strahlungsenergie zuführt, die dann in Wärmeenergie umgesetzt wird – erlaubt es, alle diese verschiedenen Energiesorten zu einem einheitlichen Energiebegriff zusammenzufassen. Die Summe all der verschiedenen Energiesorten ist dabei unveränderlich; die Gesamtenergie bleibt konstant: Energie kann zwar von einer Sorte in andere Sorten umgewandelt, aber weder aus dem Nichts erzeugt werden noch ins Nichts verschwinden.

Diese so genannte Energieerhaltung gilt auch in der Speziellen Relativitätstheorie – allerdings nur, wenn man die Definitionen der verschiedenen Energiesorten etwas abändert und, ganz wichtig, noch eine weitere Sorte Energie berücksichtigt: Selbst wenn ein Teilchen sich weder bewegt noch an andere Teilchen gebunden ist, muss man ihm bereits eine Energie zuschreiben, allein aufgrund seiner Masse. Diese Energie heißt entsprechend auch Ruheenergie des Teilchens, und es gilt

Ruheenergie = Ruhemasse · c2.

Die Ruheenergie ist im Vergleich zu herkömmlichen Energien sehr konzentriert, als Beispiel: Für ein Elektron, das in einer Fernsehröhre auf immerhin 20000 Kilometer pro Sekunde beschleunigt wird, ist die Bewegungsenergie nur rund ein Fünfhundertstel so groß wie die Ruheenergie, und diese Ruheenergie ist beispielsweise rund hundert Mal so groß wie die Strahlungsenergie eines Photons hochenergetischer Röntgenstrahlung. Diese Konzentration wirkt sich in Prozessen aus, in denen Ruheenergie in herkömmliche Arten von Energie umgesetzt wird, etwa, wenn ein Teilchen und sein Antiteilchen sich in elektromagnetische Strahlung verwandeln – aus vergleichsweise wenig Materie entsteht hier sehr viel Strahlung.

Betrachtet man die Massen der Atomkerne, dann zeigt sich, dass auch bei der Kernspaltung, der herkömmliche Atombomben ihre Sprengkraft verdanken, ein wenig „Atomkern-Ruheenergie“ oder „Atomkern-Ruhemasse“ in herkömmliche Energie umgewandelt wird: Die Masse eines Uran-235-Atomkerns beispielsweise ist etwas größer als die Summe der Massen der Atomkerne, die entstehen, wenn solch ein Urankern in Bruchstücke zerfällt. Diese Massendifferenz entspricht, hier kommt E=mc2 ins Spiel, einer beachtlichen Energie, die bei der Kernspaltung freigesetzt wird. Stimmt es also doch, dass Einsteins Formel die Mächtigkeit der Atombombe erklärt – steckt hinter deren Zerstörungskraft der große Umrechnungsfaktor c2?

Mitnichten. Gleiche Rechnung, anderer Prozess: Auch bei chemischen Reaktionen gibt es winzige Massendifferenzen. Auch wenn sich Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasser verbinden („Knallgasreaktion“), gilt: Die Summe der Ruhemassen der Ausgangsmoleküle ist ein wenig kleiner als die Summe der Ruhemassen der Wassermoleküle, die bei der Reaktion entstehen. Dasselbe gilt für jede andere chemische Verbrennungsreaktion. Und auch hier gilt: Die Massendifferenz, malgenommen mit dem Faktor c2, ergibt die bei der Reaktion freigesetzte Energie. Gleiche Formel, gleicher gigantischer Umrechnungsfaktor – und trotzdem wird in Atombombenexplosionen ungleich mehr Energie freigesetzt als bei chemischen Verbrennungsreaktionen. Ein klarer Hinweis: Hinter diesem Unterschied verbirgt sich etwas anderes als E=mc2.

Tatsächlich muss, wer die Energie der Kernspaltung erklären will, noch eine Ebene tiefer gehen. Atomkerne sind keine Elementargebilde, sondern bestehen aus Protonen und Neutronen, die aneinander gebunden sind. Mit dieser Bindung und den damit assoziierten Energien muss sich beschäftigen, wer Kernspaltung (und Kernfusion) verstehen will. Zum einen gibt es eine Bindungsenergie aufgrund der Kernkräfte, die die Protonen und Neutronen im Atomkern zusammenhalten. (Mehr zu Bindungsenergien findet sich im Vertiefungsthema Ist das Ganze die Summe seiner Teile?) Hinzu kommen weitere Energien, beispielsweise die Energie, die sich daraus ergibt, dass die elektrisch positiv geladenen Protonen sich elektrisch abstossen und so den zusammenhaltenden Kernkräften etwas entgegenwirken. Erst Modelle, in denen diese verschiedenen Energiebeiträge aufgeschlüsselt sind, und deutlich wird, wie sie von der Zahl der Protonen und Neutronen des Atomkerns abhängen, liefern den theoretischen Unterbau, aus dem sich ableiten lässt: Bei der Aufspaltung sehr massereicher Atomkerne in mehrere kleinere Kerne gibt es tatsächlich eine beachtliche Menge überschüssiger Energie. Zusammen mit dem Phänomen der Kettenreaktion, bei dem jeder bereits gespaltene Kern weitere Kerne zur Spaltung animiert, erklären diese Modelle die Sprengkraft von Kernwaffen.

Nirgends in dieser Begründung taucht Einsteins Formel auf. Allenfalls bei bestimmten radioaktiven Zerfallsprozessen, die auf die eigentliche Kernspaltung folgen, könnte man argumentieren, dort werde beim Zerfall von Neutronen in die etwas masseärmeren Protonen tatsächlich etwas Ruheenergie in herkömmliche Energieformen umgesetzt – aber diese Zerfälle tragen weniger als zehn Prozent der bei Kernspaltung und Folgeprozessen freigesetzten Energie bei. Zusammenfassend gilt: Hinter der Zerstörungskraft der Kernwaffen steckt der Umstand, dass bestimmte leichtere Atomkerne wesentlich stärker gebunden sind als bestimmte massereichere Kerne.

Nicht, dass E=mc2 bei der Erforschung der Kernspaltung keine Rolle gespielt hätte. Aber eben nicht als Begründung, sondern als indirektes Hilfsmittel: Dank dieser Formel lieferten Massenbestimmungen der verschiedensten Atomkerne den Forschern, die den Bindungsmechanismen der Kerne auf der Spur waren, wichtige Daten. (Mehr zu dieser Anwendung der Einsteinschen Formel bietet das schon genannte Vertiefungsthema Ist das Ganze die Summe seiner Teile?) Die unterschiedlich großen Massen der Atomkerne sind Symptom ihrer unterschiedlich starken Bindungen, aber nicht deren Ursache.

Größer ist da schon die politische Rolle, die Einstein bei der Entwicklung der Kernwaffen spielte: Auf Drängen des Physikers Leo Szilard schrieb er an US-Präsident Roosevelt, legte die Möglichkeit, Kernwaffen zu bauen und auch seine Befürchtungen dar, in Deutschland werde bereits an solchen Waffen gearbeitet. Einsteins Briefe stießen einen politischen Prozess an, an dessen Ende das Manhatten-Projekt stand – die Entwicklung, Herstellung und Erprobung der ersten Kernwaffen.

 

Weitere Informationen

E=mc2 ist eine Formel der Speziellen Relativitätstheorie, die in Einstein für Einsteiger im Abschnitt Spezielle Relativitätstheorie vorgestellt wird.

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Mehr zur Historie Einsteins und des Nuklearzeitalters findet sich auf der Seite The Nuclear Age des Webportals „Einstein – Image and Impact“ vom American Institute of Physics

Kolophon
Markus Pössel

ist Astrophysiker am Max-Planck-Institut für Astronomie, Leiter des Hauses der Astronomie in Heidelberg und Initiator von Einstein Online.

Zitierung

Zu zitieren als:
Markus Pössel, “Von E = mc² zur Atombombe” in: Einstein Online Band 01 (2005), 01-1104