Von der Lichtuhr zur Zeitdilatation

Ein einfaches Gedankenexperiment mit Lichtuhren – Uhren, in denen Licht als Taktgeber dient – erlaubt die Herleitung der Zeitdilatation

Ein Artikel von Markus Pössel

Angenommen, ich treibe mit einer Raumstation frei durch das All, fernab von allen größeren Massen. In der Sprache der Physiker bin ich dann ein Inertialbeobachter, und somit gelten für mich die zwei Grundpostulate der Speziellen Relativitätstheorie. Insbesondere gilt das Postulat der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit: Licht bewegt sich mit der konstanten Geschwindigkeit von 299.792.458 Metern pro Sekunde, oder rund 300.000 Kilometern pro Sekunde – diesen runden Wert werde ich im folgenden verwenden, da er die Rechnungen wesentlich vereinfacht. Wo diese Postulate gelten, lässt sich mit einem Gedankenexperiment recht einfach ein grundlegender Effekt der Speziellen Relativitätstheorie ableiten: die Zeitdilatation.

Zeitmessung mit auf- und ab laufendem Licht

Die Konstanz lässt sich ausnutzen, um in Gedanken eine spezielle Art von Uhr zu konstruieren, eine so genannte Lichtuhr. Deren Funktionsprinzip ist denkbar einfach: In konstantem Abstand werden zwei Spiegel angebracht, zwischen denen ein Lichtpuls auf- und abläuft. Jede Ankunft des Pulses beim oberen Spiegel entspricht einem „Tick“ der Uhr. Ein Detektor weist nach, wann der Puls wieder einmal den oberen Spiegel erreicht hat, und gibt diese Information an ein Zählwerk weiter, das zählt, wie oft der Puls bereits angekommen ist – in der nachfolgenden einfachen Animation zwar nur von 0 bis 9, bei einer realistischeren Lichtuhr fortlaufend immer weiter:

Lichtuhr, in der ein Lichtpuls senkrecht auf und ab läuft
Sind die Spiegel im Abstand von 150.000 Kilometern angebracht, so tickt unsere Lichtuhr pro Sekunde genau einmal. Der so angezeigte Sekundentakt ist derselbe, den wir auch mit einer beliebigen anderen guten Uhr messen würden – eine Sekunde ist schließlich gerade die Zeit, die das Licht benötigt um mit seiner Geschwindigkeit von 300.000 Kilometern pro Sekunde eine Strecke von 300.000 Kilometern zurückzulegen, eben zwei mal 150.000 Kilometer – den Abstand zwischen den Spiegeln einmal hin und einmal zurück.

Bei kürzerer Spiegelentfernung tickt die Uhr schneller; bei einem Spiegelabstand von nur 15 Zentimetern beispielsweise würde unsere Uhr im Milliardstelsekunden-Takt ticken. Für eine wirkliche Uhr wäre ein solch kurzer Takt von Vorteil – damit ließen sich dann auch Sekundenbruchteile mit großer Genauigkeit messen.

Lichtuhr in Bewegung

Betrachten wir nun eine zweite Raumstation, die ebenfalls frei im Weltraum treibt und sich mit konstanter Geschwindigkeit an meiner eigenen Station vorbeibewegt. Auch ein Beobachter auf dieser Raumstation ist ein Inertialbeobachter. Auch für ihn gilt das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Auch er kann dies ausnutzen, um eine Lichtuhr zu konstruieren, indem er zwei Spiegel in konstantem Abstand voneinander anbringt und einen davon mit einem Zählwerk ausstattet. Wählt er einen Abstand von 150.000 Kilometern, dann wird auch seine Lichtuhr in schöner Eintracht mit all seinen anderen Uhren im Sekundentakt schlagen.

Interessant wird es, wenn ich diese Lichtuhr untersuche, die sich an Bord der anderen Raumstation an mir vorbeibewegt. Am einfachsten ist der Fall, in dem die Lichtuhr senkrecht zur Bewegungsrichtung angebracht ist. Über Abstände senkrecht zur Bewegungsrichtung, so lässt sich zeigen, sind sich relativ zueinander bewegte Beobachter auch in der Speziellen Relativitätstheorie einig. Bringt der Bewohner der vorbeifliegenden Raumstation die beiden Spiegel seiner Lichtuhr im Abstand vom 150.000 Kilometern an, so erhalte ich, der ich den Spiegelabstand der vorbeifliegenden Lichtuhr mit meinen eigenen Maßstäben messe, als Ergebnis ebenfalls den Wert von 150.000 Kilometern.

Wie lange dauert es aus meiner Sicht, bis das Licht der bewegten Lichtuhr einmal seinen Weg vom oberen bis zum unteren Spiegel und wieder zurück durchlaufen hat? Anders ausgedrückt: Wieviel Zeit vergeht aus meiner Sicht zwischen zwei aufeinanderfolgenden Ticks der bewegten Lichtuhr? Die Antwort gibt die folgende Animation, die zwei baugleiche Lichtuhren zeigt. Anstatt des Zählwerks haben diese Lichtuhren eine Kontrolllampe, die jedes Mal kurz aufblinkt, wenn der Lichtpuls am oberen Spiegel ankommt. Oben im Bild ist meine eigene Lichtuhr zu sehen, die relativ zu mir ruht. Darunter fliegt mit rund 86,7 Prozent der Lichtgeschwindigkeit die bewegte Lichtuhr vorbei:

Lichtuhren

Offenbar geht die bewegte Lichtuhr von meiner Warte aus deutlich langsamer als meine eigene, baugleiche Lichtuhr: Zwischen zwei Ticks der Lichtuhr (entsprechend dem zweimaligen Aufblinken der Kontrolllampe) vergeht bei der bewegten Uhr doppelt soviel Zeit wie bei meiner eigenen. Anders ausgedrückt: In dem Zeitraum zwischen dem ersten Aufblinken der Kontrollleuchte der bewegten Uhr (links am Bildrand) und dem zweiten Aufblinken (am rechten Bildrand) hat die ruhende Uhr insgesamt drei Mal geblinkt!

Verschieden lange Wege

Wie kommt es zu diesem Unterschied? Wieso blinkt die bewegte Lichtuhr langsamer?

Es gilt die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit: Licht bewegt sich mit der konstanten Geschwindigkeit von 300.000 Kilometern pro Sekunde. Teile ich die Strecke, die das Licht auf seinem Weg vom oberen zum unteren zum oberen Spiegel zurückgelegt hat, durch diesen Geschwindigkeitswert, so erhalte ich die Zeit, die das Licht für einen Rundlauf benötigte.

Für die ruhende Lichtuhr haben wir diese Rechnung bereits aufgestellt. Dort läuft das Licht aus unserer Sicht senkrecht nach unten und anschließend senkrecht nach oben:

Abbildung, aus der die Länge des Lichtweges bei der ruhenden Lichtuhr zu sehen ist

Die dafür benötigte Zeit ist demnach zweimal der Spiegelabstand, geteilt durch die Lichtgeschwindigkeit. Bei dem angenommenen Spiegelabstand von 150.000 Kilometern und dem Wert 300.000 km/s für die Lichtgeschwindigkeit beträgt die Laufzeit eben genau eine Sekunde.

Anders bei der bewegten Lichtuhr. Deren Spiegel bewegen sich, von meiner Raumstation aus beurteilt, mit konstanter Geschwindigkeit nach rechts. Licht, das vom oberen Spiegel zum unteren und zurück zum oberen Spiegel läft, bewegt sich daher zwangsweise im Zickzack – vom ursprünglichen Ort des oberen Spiegels bis zu jenem etwas weiter rechts gelegenen Ort, zu dem sich der untere Spiegel bis zur Ankunft des Lichts hinbewegt hat, und weiter bis zu jenem Ort noch weiter rechts, den der obere Spiegel erreicht hat, wenn das Licht endlich wieder oben eintrifft. Der Lichtweg ist demnach wie in der folgenden Abbildung dargestellt, in die auch drei Schnappschüsse der bewegten Lichtuhr eingeblendet sind:

 

Schnappschüsse, aus denen die Länge des Lichtweges bei der bewegten Lichtuhr zu sehen ist

Solch ein Zickzackweg ist deutlich länger als zwei Mal der senkrechte Spiegelabstand – schließlich kommt zum Abstand in senkrechter Richtung noch ein waagerechter Abstand hinzu, den das Licht überwinden muss. In unserem Beispiel, in dem die bewegte Uhr mit 86,7 Prozent der Lichtgeschwindigkeit dahineilt, ist der Zickzackweg exakt doppelt so lang wie das senkrechte Auf-und-Ab.

Wenn aber der Abstand, den das Licht bei seinem Rundweg in der bewegten Lichtuhr zurücklegt, von meiner Raumstation aus beurteilt größer als 300.000 Kilometer ist – größer als zweimal der senkrechte Abstand -, dann ist auch die Zeit, die das Licht für den Rundweg benötigt, länger als eine Sekunde. Eine „Sekunde“, gemessen auf der bewegten Lichtuhr, ist damit länger als eine Sekunde, gemessen auf meiner eigenen, relativ zu mir in Ruhe befindlichen Lichtuhr – in dem oben illustrierten Beispiel dauert sie doppelt so lang. Dementsprechend geht die bewegte Lichtuhr von meiner Warte aus nur halb so schnell wie die Lichtuhr in meiner eigenen Raumstation.

Wie schon gesagt: Alle Uhren, die relativ zu der bewegten Raumstation ruhen, schlagen im gleichen Takt wie die bewegte Lichtuhr. Alle Uhren, die in meiner eigenen Raumstation ruhen, schlagen im gleichen Takt wie meine eigene Lichtuhr. Die Betrachtung der Lichtuhr ist daher lediglich ein Beispiel für einen viel allgemeineren Umstand, die Zeitdilatation der Speziellen Relativitätstheorie: Von meiner Raumstation aus beurteilt laufen alle Uhren der relativ zu mir bewegten Raumstation langsamer als meine eigenen Uhren. Ebenso wie die bewegten Uhren langsamer gehen, laufen auch alle Vorgänge auf der anderen Raumstation für mich langsamer ab – Fünf-Minuten-Eier kochen länger und haben am Ende doch die richtige Konsistenz, und der Pianist an Bord der anderen Station, der den Minutenwalzer spielt, benötigt dafür deutlich mehr Zeit, als es der üblichen Aufführungspraxis entspricht.

 

Weitere Informationen

Mit der Zeitdilatation beschäftigen sich eine Reihe weiterer Vertiefungsthemen aus der Kategorie Spezielle Relativitätstheorie. Die verblüffendste Eigenschaft der Zeitdilatation ist ihre Wechselseitigkeit: In dem obigen Beispiel würden aus Sicht eines Beobachters die Uhren auf meiner Raumstation langsamer laufen als seine eigenen. Diesem Aspekt widmet sich in eher grundsätzlicher Weise das Vertiefungsthema Die Dialektik der Relativität, während Zeitdilatation und Wanderer eine geometrische Analogie erkundet, anhand derer sich die Wechselseitigkeit einfach demonstrieren lässt. Etwas schwieriger wird die Situation, wenn Beschleunigungen ins Spiel kommen – dann sind wir ganz schnell bei dem, was gelegentlich Zwillingsparadoxon genannt wird. Mehr dazu gibt’s im Vertiefungsthema Die problematischen Zwillinge und, wieder als geometrische Analogie, in Zwillinge und Wanderer.

 

Vorsicht, gefälschte Lichtuhr!

Gelegentlich sieht man Animationen mit Lichtuhren, die doppelt so schnell ticken wie die hier dargestellten. Bei ihnen springt das Zählwerk zum einen dann um, wenn der Puls den oberen Spiegel erreicht, zum anderen, wenn er den unteren Spiegel erreicht. Solche Lichtuhren führen das einfache Funktionsprinzip ad absurdum, denn woher weiß das Zählwerk, wann der Puls beim unteren Spiegel ankommt? Diese Information müsste erst mühsam vom unteren Spiegel zum Zählwerk übertragen werden. Diese Übertragung lässt sich aber nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit bewerkstelligen. Insbesondere würde die Information das Zählwerk nicht erreichen, bevor der Lichtpuls selbst bereits wieder am oberen Spiegel eintrifft.

Kolophon
Markus Pössel

ist Astrophysiker am Max-Planck-Institut für Astronomie, Leiter des Hauses der Astronomie in Heidelberg und Initiator von Einstein Online.

Zitierung

Zu zitieren als:
Markus Pössel, “Von der Lichtuhr zur Zeitdilatation” in: Einstein Online Band 04 (2010), 02-1101