Schauspiel auf veränderlicher Bühne: Hintergrundunabhängigkeit und Quantengravitation

Zu der Frage, ob es in einer Theorie der Quantengravitation vorgegebene, absolute Hintergrundstrukturen geben kann

Ein Artikel von Lee Smolin

Derzeit gibt es eine ganze Reihe von Kandidaten für eine Theorie der Quantengravitation. Am bekanntesten sind die Stringtheorie und die Schleifen-Quantengravitation. Ein wichtiger Unterschied zwischen den verschiedenen Ansätzen betrifft ihren Umgang mit dem, was Physiker Hintergrundunabhängigkeit nennen.

Sind Raum und Zeit festgefügte Hintergrundstrukturen? Die Geschichte dieser Frage geht bis zu den alten Griechen zurück. Die speziellen Aspekte, die Physiker heutzutage an dieser Frage interessieren, wurden allerdings erst nach der Entstehung der von Isaak Newton begründeten klassische Mechanik klar herausgearbeitet.

Raum und Zeit als Bühne

Im Newtonschen Kosmos stellen Raum und Zeit eine festgefügte, unveränderbare und ewige Hintergrundstruktur da, relativ zu der sich Teilchen bewegen. Raum und Zeit sind eine Bühne, und genau wie Schauspieler auf dieser Bühne bewegen sich die Teilchen, üben Kräfte aufeinander aus und führen ganz allgemein das Schauspiel der dynamischen Entwicklung der Welt auf, währenddessen die Bühne selbst unverändert bleibt. Diese Weltsicht ist in der folgenden Abbildung schematisch wiedergegeben. Zu sehen sind Objekte in Form von farbigen geometrischen Figuren sowie der feste Hintergrundstruktur, der Raum. Der ist genauso real wie die Objekte und wird in der Abbildung durch das Karonetz sich schneidender Linien repräsentiert:

Newtons Weltbild: Der Raum als feste Hintergrundstruktur

Newtons Weltbild: Der Raum als feste Hintergrundstruktur

Diese Sicht des Universums ist ausdrücklich hintergrundabhängig – ob ein Teilchen sich bewegt oder in Ruhe ist hängt von seinem Verhalten relativ zu Newtons absolutem Raum und seiner absoluten Zeit ab.

Relationismus

Doch bereits zu Newtons Zeiten gab es Philosophen wie Gottfried Wilhelm Leibniz, die eine andere Sicht der Dinge hatten. In moderner Ausdrucksweise nehmen sie einen relationistischen Standpunkt ein. Für einen Relationisten gibt es keinen Hintergrund absoluten Raums und absoluter Zeit. Die Grundeigenschaften der Elementarbestandteile der Welt sind vollständig durch die Beziehungen zwischen ihnen gegeben. Zeit ist nichts als die geordnete Abfolge von Veränderungen dieser Beziehungen. In der relationistischen Version der obigen Abbildung sind nur die Objekte, die farbigen geometrischen Figuren, real. Das Karonetz hat keine eigene Existenz. Auch ohne Karonetz ist es sinnvoll, von den Abständen zwischen den einzelnen Objekten zu sprechen. Aber es ist sinnlos, von Abständen zwischen Raumpunkten zu sprechen, an denen sich keine Objekte befinden:

Relationale Welt ohne Hintergrundstruktur

Relationale Welt ohne Hintergrundstruktur

Eine von Einsteins grundlegenden Entdeckungen war es, dass es in unserem Universum tatsächlich keinen festen Raumzeit-Hintergrund gibt. In seiner Allgemeinen Relativitätstheorie, die Newtons Mechanik und seine Theorie der Gravitationskraft ersetzt, liegt die Geometrie der Raumzeit nicht ein für alle Mal fest. Stattdessen nimmt auch die Geometrie an der dynamischen Entwicklung teil und verändert sich. Physiker, die unser Universum beschreiben wollen, können nicht einfach eine bestimmte Geometrie vorgeben. Wie die Geometrie aussieht, ergibt sich erst, wenn man bestimmte Gleichungen löst, in denen neben Raum und Zeit auch die darin enthaltene Materie und Energie eine wichtige Rolle spielen.

Eine entscheidende Konsequenz von Einsteins dynamischer Geometrie ist die Existenz von Gravitationswellen: wandernder, wellenartiger Verzerrungen der Raumgeometrie. Astronomische Beobachtungen an Doppelpulsaren wie PSR 1913+16 zeigen, dass solche Systeme genau in dem Maße an Energie verlieren, wie es die Allgemeine Relativitätstheorie aufgrund der Abstrahlung von Gravitationswellen vorhersagt. Aus diesen Beobachtungen folgt, dass die Idee einer festgefügten Hintergrundgeometrie der Raumzeit in unserem Universum ebenso überholt ist wie die Vorstellung von festgefügten Kristallsphären, welche die Planeten daran hindern, zu Boden zu fallen.

Gleichwertige Gitternetze

Eng mit der Hintergrundunabhängigkeit verknüpft ist ein weiteres Konzept, das im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie eine wichtige Rolle spielt und unter dem ehrfurchtgebietenden Namen Diffeomorphismeninvarianz firmiert. Es betrifft die Koordinaten, die Physiker benutzen, um Raum und Zeit zu beschreiben. Das Prinzip der Diffeomorphismeninvarianz besagt, dass es in der Physik keine zusätzlichen Strukturen gibt, die bestimmte Koordinaten vor anderen Wahlmöglichkeiten auszeichnen. Orientiert man sich lediglich an den Gesetzen der Physik, so ist kein Koordinatensystem besser oder schlechter als ein anderes. In der Bildsprache der obigen Illustrationen gibt es unendlich viele gleichwertige Arten und Weisen, ein Gitternetz zu definieren – ein paar Beispiele sind in der folgenden Abbildung angedeutet:

Diffeomorphismeninvarianz: Dieselbe Situation, mit Hilfe verschiedener Koordinaten beschrieben

Dieselbe Situation, mit Hilfe verschiedener Koordinaten beschrieben

Die Diffeomorphismeninvarianz hat zur Folge, dass der Aussage, einer der Punkte liege auf der Linie y=9 des einen Netzes, auf der wellenartigen Linie x=3 eines anderen oder auf dem Schnittpunkt von y=5 und x=2 in einem dritten, keinerlei physikalische Bedeutung zukommt. Ein Punkt im Raum lässt sich nicht durch bestimmte Koordinatenwerte auszeichnen, sondern lediglich dadurch, dass sich dort ein Objekt befindet, beispielsweise das blaue Dreieck. Oder, um von der vereinfachten Illustration zur Allgemeinen Relativitätstheorie zurückzukehren: Ein Punkt in der Raumzeit (ein Ereignis) ist letztlich nur dadurch definiert, was dort passiert, nicht durch seine Koordinatenwerte bezüglich eines bestimmten Koordinatensystems. Die Physik ist unabhängig davon, was für ein Gitternetz man wählt.

Mit ihrer dynamischen Geometrie und der Unmöglichkeit, die Geometrie an ein bevorzugtes Gitternetz zu koppeln (Diffeomorphismeninvarianz) ist die Allgemeine Relativitätstheorie zumindest teilweise eine relationale Theorie. Tatsächlich bilden die Diskussionen um Relationalität versus Absolutheit den historischen und philosophischen Hintergrund für Einsteins Arbeit an seiner Theorie.

Die Suche nach der Quantengravitation

Es ist sinnvoll, auf der Suche nach einer Theorie der Quantengravitation eine ähnlich relationistische Strategie zu wählen: Wenn wir die grundlegende Beschreibung unserer Wirklichkeit finden wollen, dann sollten wir uns bemühen, noch vorhandene Hintergrundstrukturen in den bestehenden Theorien zu identifizieren und zu entfernen. An ihre Stelle sollten Beziehungen treten, die sich dynamisch verändern – im Einklang mit bestimmten physikalischen Gesetzen, die angeben, wie diese Veränderung vor sich geht. Genau solch einen Wechsel von der Hintergrundstruktur zur Dynamik hat die Allgemeine Relativitätstheorie für die Geometrie vollzogen. Für die Suche nach einer Theorie der Quantengravitation dieselbe Herangehensweise zu wählen spiegelt die Überzeugung wider, dass die Allgemeine Relativitätstheorie nicht nur ein vorübergehender Triumph für die Relationisten ist, sondern dass die darin enthaltenen relationistischen Elemente – Hintergrundunabhängigkeit, Diffeomorphismeninvarianz – Bestand haben werden.

Von den bereits erwähnten Kandidaten für eine Theorie der Quantengravitation ist die Stringtheorie in ihrer heutigen Form manifest hintergrundabhängig. Jedes der verschiedenen Modelle der Stringtheorie ist so definiert, dass sich die fundamentalen Bestandteile, die Strings, auf einem vorgegebenen Raumzeit-Hintergrund bewegen. Das mag eine nützliche Näherung sein, kann aber keine endgülige Formulierung einer Theorie der Quantengravitation darstellen. Erst vor nicht allzu langer Zeit, seit den 1990er Jahren, begann die Frage der Hintergrundunabhängigkeit in der Stringforschung eine größere Rolle zu spielen. Aus jener Zeit stammt das Postulat, all die verschiedenen bereits bekannten Stringtheorien (und eine unendlich große Zahl noch unbekannter Theorien) seien lediglich Annäherungen an eine einzige, einheitliche Theorie, die man auf den Namen M-Theorie getauft hat. Bislang besteht noch keine Einigkeit darüber, welches die Grundprinzipien der M-Theorie sind oder wie sie mathematisch zu formulieren sei. Aber eines scheint klar zu sein: wenn es sie denn gibt, sollte die M-Theorie hintergrundunabhängig sein, und all jene verschiedenen Stringtheorien mit ihren starren Hintergrundstrukturen wären lediglich Speziallfälle dieser allgemeineren Theorie. Bis solch eine Formulierung der M-Theorie gefunden ist, haben die Stringtheoretiker allerdings noch einiges an Forschungsarbeit vor sich.

Im Gegensatz dazu ist die Schleifen-Quantengravitation von vornherein weitgehend hintergrundunabhängig formuliert. Sie liefert uns eine detaillierte Beschreibung der Quantenversionen der Geometrien des Raums und, allgemeiner, der Raumzeit, aus der bereits eine Reihe ermutigender Ergebnisse abgeleitet werden konnten. Die Quantengeometrie wird dabei mit Hilfe eleganter relationaler Strukturen formuliert, etwa von Netzwerken, bestehend aus Knoten und Verbindungen (vergleiche die Kurzdarstellung auf der Seite Gravitation in Schleifen im Kapitel Relativität und Quanten von Einstein für Einsteiger sowie das Vertiefungsthema Die Webstruktur des Raums: Spinnetzwerke). In dieser Formulierung bleibt die Hintergrundunabhängigkeit von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie erhalten.

Weitere Informationen

Die relativistischen Grundkonzepte, die diesem Vertiefungsthema zugrunde liegen, werden in Einstein für Einsteiger erklärt, insbesondere im Abschnitt Relativität und Quanten.

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Kolophon
Lee Smolin

Lee Smolin ist Professor an der Universität Waterloo (Kanada) und forscht am Perimeter Institute for Theoretical Physics.

Zitierung

Zu zitieren als:
Lee Smolin, “Schauspiel auf veränderlicher Bühne: Hintergrundunabhängigkeit und Quantengravitation” in: Einstein Online Band 01 (2005), 01-1132