Webmuster des Raums: Spin-Netzwerke

Zu den mikroskopischen Strukturen, die Raum und Zeit in der Theorie der Schleifen-Quantengravitation zugrunde liegen

Ein Artikel von Thomas Thiemann

In Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie ist die Geometrie nicht ein für alle Mal vorgegeben – vielmehr nimmt auch die Geometrie am dynamischen Wechselspiel teil, und ihre zeitliche Entwicklung lässt sich nur in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung der Materie bestimmen. Es gibt keine von außen vorgegebenen geometrischen Hintergrundstrukturen – ein Umstand, der auch als Prinzip der Hintergrundunabhängigkeit bezeichnet wird.

Neben der Allgemeinen Relativitätstheorie ist die Quantentheorie der zweite Pfeiler der modernen Physik. Laut Quantentheorie sind die Naturgesetze der so genannten Heisenbergschen Unschärferelation unterworfen. Da Materie den Gesetzen der Quantentheorie gehorcht, da ferner die Einstein-Gleichungen Materie und Geometrie miteinander verknüpfen, und da drittens geometrische Verzerrungen in Einsteins Theorie die Wirkungen der Gravitation vermitteln, folgt, dass auch die Gravitation letztlich quantentheoretisch beschrieben werden muss.

Leider hat es sich als überaus schwierig erwiesen, eine Theorie der Quantengravitation zu formulieren. Bei der Formulierung herkömmlicher Quantentheorien (beispielsweise der Quantenelektrodynamik, der Quantentheorie elektromagnetischer Felder) spielt nämlich eine vorgegebene Hintergrundgeometrie eine zentrale Rolle. Ohne Hintergrund ergibt die Art und Weise, wie (herkömmliche) Quantentheorien formuliert sind, gar keinen Sinn.

Beispielsweise ist eine der Grundlagen speziell-relativistischer Quantentheorien das so genannte Kausalitäts-Axiom. Einfach ausgedrückt besagt es, dass gewisse Eigenschaften eines Quantensystems eine an anderem Ort vorgenommene Messung niemals beeinflussen können, wenn solch ein Einfluss sich dazu schneller als mit Lichtgeschwindigkeit hätte ausbreiten müssen. Um diese Vorschrift überhaupt ausformulieren zu können, muss bekannt sein, wie sich das Licht ausbreitet, und das wiederum hängt von der Raumzeit-Geometrie ab. Doch wenn sich die Geometrie dynamisch verändert, ist es unmöglich, vorab Aussagen über die Kausalstruktur zu treffen – tatsächlich sollte die Kausalstruktur in typisch quantenmechanischer Art und Weise gar nicht eindeutig bestimmbar sein.

Schleifen-Quantengravitation

Wenn man Einsteins Prinzip der Hintergrundunabhängigkeit ernst nimmt, kommt man daher nicht umhin, die Prinzipien der Quantentheorie zu verallgemeinern. Eine mögliche Verallgemeinerung führt zur so genannten Schleifen-Quantengravitation, auf Englisch „Loop Quantum Gravity“ (LQG), einem Kandidaten für eine Theorie der Quantengravitation. In deren Modellen ist die Geometrie zu jedem Zeitpunkt auf eindimensionalen Strukturen konzentriert, die Graphen heißen und beliebig kompliziert sein können. Ein Graph ist ganz einfach ein Netzwerk aus eindimensionalen, mit einer Richtung behafteten Linien. Die folgende Abbildung zeigt einen Ausschnit aus einem für die Schleifen-Quantengravitation typischen Graph:

Spinnetzwerk mit Knotenpunkten, Linien, Pfeilen und Beschriftung

Die eingezeichneten Pfeile geben jeder der Linien eine Richtung (in der Sprache der Mathematik: eine Orientierung). Außerdem ist jede Linie mit einer Zahl beschriftet, einem ganzzahligen Vielfachen von 1/2. Der mathematische Hintergrund dieser Zahl ist derselbe wie beim Spin etwa in der Elementarteilchenphysik, eine Zahl, die man Elementarteilchen als charakteristische Eigenschaft zuordnen kann. Entsprechend heißen die Zahlen der Beschriftung auch in diesem Zusammenhang Spin. (Zusätzlich ist auch mit jedem Knotenpunkt eine Angabe verbunden. Deren mathematischer Hintergrund ist aber deutlich komplizierter, und wir werden sie in der folgenden vereinfachten Darstellung ignorieren.) Das Resultat ist ein so genanntes Spinnetzwerk. Es repräsentiert den Quantenzustand des Raums zu einem bestimmten Zeitpunkt.

Der Aufbau eines Spinnetzwerks

Die Verbindungslinien haben dabei zunächst keine genau bestimmte Länge – schließlich gibt es auch keine Hintergrundgeometrie, die man ausnutzen könnte, um solch eine Länge zu bestimmen. Stattdessen haben wir es mit einem Quantensystem zu tun, und das bedeutet: Wollen wir über geometrische Größen wie Längen oder Flächen reden, müssen wir entsprechende Messvorschriften definieren. In Fachbegriffen ausgedrückt: Wir müssen geeignete Operatoren konstruieren, zu denen die Spinnetzwerk-Zustände Eigenzustände sind. Um sich das zumindest ansatzweise vorstellen zu können, ist eine andere Darstellungsweise des Spinnetzwerk-Graphen nützlich, etwas, das in der Mathematik duale Darstellung heißt.

Dahinter steckt die Idee, dass man einen Knoten mit davon ausgehenden Linien – einen nulldimensionalen Punkt mit eindimensionalen Anhängseln – verwenden kann, um ein dreidimensionales Volumen mit einer Oberfläche aus zweidimensionalen Flächenelementen zu repräsentieren. Als einfaches Beispiel mag der folgende Knoten mit sechs abgehenden Linien dienen:

Knoten mit sechs Linien

Wie die folgende Abbildung zeigt, kann diese Punkt-Linienkombination für ein solides, würfelähnliches Objekt stehen: Der Knoten sitzt in der Mitte des Würfels, und jede Linie steht für eine der Würfelflächen:

Knoten mit sechs Linien und dualem Würfel

Jedes Element des Graphen entspricht dabei (in der Sprache der Mathematik: „ist dual zu“) einem Element des Würfels: Der Knotenpunkt (ein nulldimensionales Element) stellt das Volumen des Würfels da (eines Gebildes mit 3-0=3 Dimensionen). Jede Linie (jeweils ein eindimensionales Objekt) repräsentiert eine der Würfelflächen (das heißt ein Objekt mit 3-1=2 Dimensionen), nämlich gerade jene Fläche, die von der Linie durchstoßen wird:

Knoten mit sechs Linien, dualem Würfel, und Hervorhebung jedes Linien-Flächenpaares

Bislang definiert die Entsprechung lediglich die Form des dualen Objekts, in unserem einfachen Fall: den Umstand, dass wir es mit sechs Flächen zu tun haben, die wie bei einem Würfel miteinander verbunden sind. Sie gibt aber weder das Volumen des Würfels noch den Flächeninhalt jeder der Würfelseiten an. Diese zusätzliche Information lässt sich dem Netzwerk hinzufügen, wenn man jede Linie mit einer Zahl beschriftet, welche den Flächeninhalt der entsprechenden Fläche angibt, und jeden Knoten mit einer Zahl, die das Volumen des betreffenden dreidimensionalen Körpers beschreibt.

Mit einer ganz ähnlichen Art von Dualität lässt sich die duale Entsprechung jedes Spinnetzwerk-Zustandes finden. Schließlich ist jeder dieser Zustände ein beschrifteter Graph. Das duale Gebilde dazu ist eine Sammlung von Flächen, die jeweils an den Kanten miteinander verbunden sind, und das so, dass jedes Flächenstück exakt eine Linie des Graphen schneidet. Im Vergleich mit dem einfachen Würfelbeispiel ist die Bedeutung der Spinwerte, mit denen die Linien beschriftet sind, allerdings etwas abstrakter. Die Spinwerte stehen nicht einfach für den Flächeninhalt, sondern aus ihnen muss der Flächeninhalt erst nach bestimmten Vorschriften berechnet werden, wobei freilich immer noch gilt: Größere Spinwerte führen zu größerem Flächeninhalt (in der Fachsprache der Quantentheorie: einem größeren Eigenwert des Flächenoperators). Insofern trifft nach wie vor zu, dass die Linienbeschriftung angibt, „wieviel Geometrie“ auf der Fläche dual zur betreffenden Linie konzentriert ist.

In der Schleifen-Quantengravitation stellt sich heraus, dass sich auf diese Weise für Flächeninhalte nicht jeder beliebige Wert ergeben kann (wie es in der herkömmlichen Geometrie der Fall war). Stattdessen sind nur ganz bestimmte Werte zulässig – ein typisches Quantenphänomen: zum Beispiel besteht eine berühmte Konsequenz der Quantenmechanik gerade darin, dass die Energiewerte des Elektrons eines Wasserstoffatoms nur ganz bestimmte, klar voneinander unterscheidbare Werte annehmen kann. Allerdings sind die Sprünge von einem laut Schleifen-Quantengravitation erlaubten Flächenwert zum nächsten extrem winzig. Typischerweise sind sie von der Größenordnung der Planckfläche von rund 10-66 Quadratzentimetern (entsprechend dem Quadrat der Planck-Länge).

In dem einfachen Beispiel oben war der Würfel so gezeichnet, wie er im gewohnten Raum erscheinen würde. In der Schleifen-Quantengravitation gibt es allerdings keine solche Hintergrundstruktur, in die sich ein Spinnetzwerk-Graph und das dazu duale Flächennetz einbetten ließen. Im allgemeinen ist es sogar unmöglich, das aus unzähligen Teilflächen bestehende Dualgebilde im normalen, dreidimensionalen Raum so darzustellen, dass der Flächeninhalt jeder der Teilflächen richtig wiedergegeben wird. Der Grund ist ganz einfach, dass das duale Gebilde im allgemeinen nicht für einen flachen Raum steht, sondern für einen stark verzerrten, gekrümmten Raum.

Flug durch ein Spinnetzwerk

In der folgenden künstlerischen Darstellung des Dualgebildes zu einem Spinnetzwerk-Zustand wurde dieses Problem folgendermaßen umgangen: Jeder Teilfläche ist in der Abbildung eine Farbe zugeordnet. Diese Farbe, und nicht etwa die scheinbare Ausdehnung der betreffenden Teilfläche, zeigt den zugeordneten Spinwert und damit den Flächeninhalt an. Obwohl es auf den ersten Blick nicht so aussieht, gilt daher: Selbst wenn sie scheinbar denselben Flächeninhalt zu haben scheinen, kann doch eine der Teilflächen deutlich größer oder kleiner sein als eine andere, genau so groß eingezeichnete Teilfläche – dann nämlich, wenn die beiden unterschiedlich eingefärbt sind. Die Farbkonvention orientiert sich dabei am Lichtspektrum: Rote Farbe steht für einen besonders geringen Flächeninhalt, violett für einen besonders großen. Was im Bild wie leerer Raum zwischen den Teilflächen aussieht, hat in Wirklichkeit weder Volumen noch Flächeninhalt: Nur dort, wo Teilflächen angeregt (eingefärbt) sind, ist in der Abbildung Raum dargestellt. Wenn wir den Raum in dieser Abbildung mit Materie füllen würden, könnte die Materie ebenfalls nur auf den eingefärbten Teilflächen (im Spinnetzwerk: auf den Linien) existieren. Die Abbildung ist ein Schnappschuss, der lediglich das duale, aus vielen Teilflächen bestehende Gebilde zeigt; der zugrundeliegende Spinnetzwerk-Graph ist aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht mit eingezeichnet:

[Bild: MPI für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut), MildeMarketing, Exozet]

[Bild: MPI für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut), MildeMarketing, Exozet]

Mit der Zeit kann sich das Spinnetzwerk verändern: Linien können verschwinden, neue Linien entstehen, und die Spin-Zahlenwerte einer Linie können zu- oder abnehmen. Wie die Entwicklung vor sich geht, ergibt sich aus den Gleichungen der Schleifen-Quantengravitation; man könnte die entsprechende Theorie auch Quantenspindynamik (QSD) nennen, analog zur Theorie der starken Kernkräfte in der Elementarteilchenphysik, der Quantenchromodynamik (QCD). Die von der Quantenchromodynamik festgelegte Dynamik von Elementarteilchen wie Quarks und Gluonen behandelt die so genannten Farb-Quantenzahlen der betreffenden Teilchen ganz ähnlich wie die Quantenspindynamik die Spinquantenzahlen eines Spinnetzwerks. Ein Beispiel für dynamische Entwicklung ist in dem Film dargestellt, der über die unter der Kurzanimation angegebenen Links heruntergeladen werden kann. Beachten Sie, dass es im Film zweierlei Arten von Veränderung gibt: Einmal die Evolution des Spinnetzwerks, mit plötzlichen Änderungen der Geometrie (Flächenelemente und Farben), zum anderen einen sanften Flug des Beobachters durch den Einbettungsraum.

[Animation: MPI für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut)/MildeMarketing/Exozet]

[Animation: MPI für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut)/MildeMarketing/Exozet]

Dieser chaotische Schaum, Ergebnis einer Quantenevolution, gibt die Eigenschaften des Raums auf der mikroskopisch kleinen Größenskala der Planck-Länge wieder. Wenn wir aus diesem Bild herauszoomen würden, würde der Raum schließlich so glatt aussehen wie das Raumzeit-Kontinuum der herkömmlichen, klassischen Geometrie. Doch wo immer sich extrem konzentrierte Materieansammlungen bilden, entsprechend extremer Krümmung von Raum und Zeit, müsste eine angemessene physikalische Beschreibungsweise zurückgehen bis zu diesem chaotischen Bild einer Quanten-Raumzeit – um beispielsweise zu beschreiben, was es mit dem Innersten eines Schwarzen Lochs oder mit dem Urknall auf sich hat. Solche Anwendungsmöglichkeiten auszuloten und entsprechende Modelle für die extremsten Situationen in Astrophysik und Kosmologie aufzustellen, ist derzeit eines der vordringlichsten Forschungsziele der Schleifen-Quantengravitation.

Weitere Informationen

Grundlagenwissen zu den hier angesprochenen Aspekten der Relativitätstheorie bietet Einstein für Einsteiger, insbesondere das Kapitel Relativität und Quanten.

Welche Erkenntnisse über die Kosmologie sich aus einer vereinfachten Version der Schleifen-Quantengravitation gewinnen lassen beschreiben die Vertiefungsthemen Den Urknall überspringen und Die gebändigte Dichte. Ähnliche Vertiefungsthemen finden sich in der Kategorie Relativität und Quanten.

Kolophon
Thomas Thiemann

ist Professor für Physik an der Universität Erlangen. Sein Forschungsgebiet ist die Schleifen-Quantengravitation.

Zitierung

Zu zitieren als:
Thomas Thiemann, “Webmuster des Raums: Spin-Netzwerke” in: Einstein Online Band 01 (2005), 01-1130