Messung der Lichtablenkung mit Radioteleskopen

Die Ablenkung von Licht durch die Sonne können Forschende mit hoher Genauigkeit messen – mithilfe der Very Long Baseline Interferometry (VLBI). Mit dieser radioastronomischen Methode lassen sich Vorhersagen der Allgemeinen Relativitätstheorie überprüfen.

Ein Artikel von Irwin Shapiro

Die Lichtablenkung in der Nähe einer Masse ist eine der klassischen Vorhersagen der Allgemeinen Relativitätstheorie. Ihr wohl berühmtester erfolgreicher Test war der Nachweis der Ablenkung des Sternenlichts durch die Sonne während einer totalen Sonnenfinsternis im Jahre 1919. Durch den Vergleich mit ähnlichen Beobachtungen, die gemacht wurden, als die Sonne in einem anderen Teil des Himmels stand, wurde die Ablenkung des Lichts durch die Sonne bestätigt. Sie stimmte recht gut mit der Vorhersage der Allgemeinen Relativitätstheorie überein – mit denen der Newtonsche Gravitationstheorie jedoch gar nicht. Eine Beschreibung dieser Beobachtungen sowie allgemeine Informationen zur Lichtablenkung durch Masse finden Sie im Vertiefungsthema Gravitationslichtablenkung.

Allerdings war dieser erste erfolgreiche Versuch, die gravitative Ablenkung des Sternenlichts zu messen, nicht besonders genau. Solche Messungen der Richtung der einfallenden sichtbaren Lichtstrahlen sind, wenn sie von der Erdoberfläche aus vorgenommen werden, in ihrer Genauigkeit begrenzt. Grund hierfür ist, dass die Erdatmosphäre den Weg der Lichtstrahlen beeinflusst und verwischt – dies ist auch die Ursache für das „Funkeln“ der Sterne am Nachthimmel. Wiederholungen der oben genannten optischen Beobachtungen der Sonnenablenkung des Sternenlichts mit verbesserter Instrumentierung, die während des folgenden halben Jahrhunderts erfolgten, haben daher die Genauigkeit der ursprünglichen Ergebnisse nur geringfügig verbessert. Ein Beispiel für dieses Funkeln ist in der folgenden Animation dargestellt:

Ein heller Fleck springt in einem Feld hin und her. Diese Zeitserie zeigt am Stern Betelgeuse das "Sternefunkeln"

[Bild: Gruppe Angewandte Optik (Imperial College) und William Herschel 4.2-m-Teleskop.
Es wurde aus zehn hochauflösenden Bildern des Sterns Betelgeuse (im Sternbild Orion) erstellt, die in schneller Folge aufgenommen wurden. Das Bild entspricht einem Betrachtungswinkel von 2,3 Bogensekunden.]

Kombination von Radioteleskopen: VLBI

Ein Durchbruch gelang 1967 mit der Erkenntnis, dass durch eine spezielle Technik mit Radioteleskopen die Positionen kompakter, Radiowellen aussendender kosmischer Objekte bestimmt werden können, und zwar mit einer mehr als tausendmal höheren Genauigkeit als die, die ein optisches Teleskop auf der Erde erreicht [1]. Mit dieser Methode lassen sich die Positionen solcher Quellen am Himmel sehr genau beobachten, da die Sonne sich im Laufe eines Jahres einmal über den Himmel bewegt.

Die Technik, die als Very Long Baseline Interferometry (VLBI) bezeichnet wird, umfasst eine Reihe von Radioteleskopen, die über den ganzen Globus (und auch in den Weltraum) verteilt werden können, wobei alle Teleskope gleichzeitig Radiowellen von derselben astronomischen Quelle empfangen. Entscheidend ist, dass jede der von der Quelle ausgestrahlten Wellen in der Regel zu unterschiedlichen Zeiten bei den verschiedenen Teleskopen eintrifft. Denn jedes Teleskop befindet sich an einem anderen Ort, hat also einen anderen Abstand zur Quelle als die anderen Teleskope. Die Laufzeit einer Welle von der Quelle zu einem Teleskop hängt also davon ab, wo dieses steht, wie die folgende Animation veranschaulicht. Vereinfacht und nicht maßstabsgetreu zeigt sie eine Quelle in der Nähe der Erde. In Wirklichkeit wären solche Quellen wahrscheinlich einige Milliarden Lichtjahre entfernt. Außerdem sind die Teleskope im Verhältnis zur Erde auf diesem Bild viel zu groß dargestellt. Die Animation gibt jedoch das Grundprinzip wieder:

 

animation showing two radio telescopes receiving radio waves

Der blaue Punkt oben in der Animation ist die Radioquelle, und die Wellen sind als Kreise dargestellt. Immer wenn eines der Radioteleskope von einer Wellenfront erreicht wird, leuchtet das Teleskop in der Animation kurzzeitig auf. Es ist deutlich zu erkennen, dass jeder Wellenberg zuerst das linke Teleskop erreicht und dann das rechte. Wäre die Radioquelle etwas weiter rechts, würden ihre Wellen bei beiden Teleskope gleichzeitig ankommen. Wäre sie noch weiter rechts, empfinge das rechte Teleskop die Wellen jeweils zuerst.

Umgekehrt bedeutet das: Indem Radioastronomen messen, wann welche Welle an den Teleskopen ankommt, können sie die Richtung, aus der die Wellen kommen, angeben – also die Position einer Quelle am Himmel bestimmen. Diese Methode ermöglicht es ihnen insbesondere, den Winkelabstand von kompakten Objekten wie Quasaren mit einer Genauigkeit zu messen, die deutlich unter einer Tausendstel Bogensekunde liegen kann, was in etwa dem Winkel entspricht, den ein Mensch auf dem Mond von der Erde aus betrachtet einnimmt.
Mit dieser Technik wurde 2019 zum ersten Mal überhaupt ein Bild von der nahen Umgebung eines Schwarzen Lochs gewonnen.

Messung der Lichtablenkung mit VLBI

Indem Forschende überwachen, wie sich die scheinbaren Positionen von sehr weit entfernten kompakten Radioquellen verändern, können sie Ablenkungsvorhersagen der Allgemeinen Relativitätstheorie überprüfen.
Im folgenden Beispiel bewegt sich die Sonne an drei fiktiven kompakten Quellen am Himmel vorbei:

Animation showing three cosmic objects changing their position as the sun passes through
Man beachte, dass diese Quellen (weiße Punkte) näherungsweise punktförmig sind. Das bedeutet, sie zeigen keine oder sehr wenig Struktur, selbst wenn sie mit dem höchstauflösenden VLBI beobachtet werden. Die Zahlen geben die Winkelabstände der drei kompakten Objekte voneinander in Grad an. Die Abstände der Quellen zueinander sind maßstabsgetreu im Vergleich zur Winkelausdehnung der Sonne, aber ihre Positionsänderung während des Passierens der Sonne wurde jeweils um den Faktor 5000 vergrößert, um sie sichtbar zu machen. Die Animation wurde ebenfalls beschleunigt; in Wahrheit bräuchte die Sonne mehrere Tage, um die im Bild gezeigte Himmelsregion zu durchqueren.

Nutzte man ein einzelnes optischen Teleskops auf der Erde, könnte man die Ablenkung nur dann feststellen, wenn die entfernte Lichtquelle, die Sonne und der Beobachter fast in einer Reihe stünden, und auch nur während einer totalen Sonnenfinsternis. Die erdbasierte optische Interferometrie, also die Kombination optischer Teleskope zu einem Interferometer, kann die Ablenkung auch noch nicht viel besser messen. Im Gegensatz dazu sind die Messungen der Radiointerferometrie empfindlich genug, um die Ablenkung bei praktisch jedem Winkelabstand zwischen der Sonne und einer kompakten Radioquelle zu erfassen. Selbst wenn sich die Sonne und die kompakte Quelle an fast gegenüberliegenden Punkten am Himmel befinden, kann die winzige Positionsänderung, die nur wenige Tausendstel Bogensekunden beträgt, leicht erkannt werden!

Seit 1967 wurden mehrere solcher radiointerferometrischen Experimente durchgeführt, die immer genauere Tests der Allgemeinen Relativitätstheorie ermöglichten. Der genaueste dieser Tests in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts wurde im Jahr 2004 abgeschlossen [2].

Die Ergebnisse von 2004

Die 2004 veröffentlichten Ergebnisse basieren auf rund 1,7 Millionen VLBI-Messungen, die in den zwei Jahrzehnten von 1979 bis 1999 mit Hilfe von 87 verschiedenen Radioteleskopen durchgeführt wurden. Die Standorte der Teleskope sind in der folgenden Karte eingezeichnet:

Weltkarte, auf der Punkte die Standorte von Radioteleskopen anzeigen. Diese sind vermehrt in Nordamerika, Europa und Ostasien zu sehen.[Positionsdaten: S. Shapiro]

Beobachtet wurden insgesamt 541 verschiedene Radioquellen. Ihre Standorte sind in der folgenden Abbildung zu sehen, überlagert von einem Bild des Radiohimmels (erstellt aus Beobachtungen bei einer Radiofrequenz von 408 Megahertz). Der helle horizontale Streifen ist die Milchstraße:

Bild des Himmels mit orangenen Punkten, die Radioquellen anzeigen. Als heller Streif in der Mitte ist die Milchstraße zu erkennen.

[Quelldaten S. Shapiro; Hintergrund von NASA’s SkyView, nutzt Sinusoidal-Projektion]

Ursprünglich waren all diese Daten für geodätische Zwecke gesammelt worden, um Variationen der Erdrotation und die Bewegungen der tektonischen Platten auf der Erdoberfläche zu beobachten.
Die Analyse von 2004 zielte darauf ab, aus diesen Daten Informationen über die Lichtablenkung durch die Sonne zu gewinnen. Ihre Ergebnisse stimmten im Rahmen der geschätzten Unsicherheit von 0,02 Prozent mit den Vorhersagen der Allgemeinen Relativitätstheorie überein.

Dieses Ergebnis kann in Form eines Parameters γ ausgedrückt werden, der ein Maß für die Krümmung des Raums ist (es handelt sich um einen Parameter des so genannten parametrisierten post-Newtonschen Formalismus, einem mathematischen Gerüst für die Prüfung der Vorhersagen der Allgemeinen Relativitätstheorie und verwandter Theorien). In der Allgemeinen Relativitätstheorie ist γ = 1. Die VLBI-Messungen der Lichtablenkung ergeben γ = 0,99983 mit einem geschätzten Standardfehler von plus/minus 0,00045. Das Ergebnis ist also stimmig mit den Vorhersagen der Allgemeinen Relativitätstheorie.

Das jüngste Ergebnis

Das jüngste derartige Experiment, das von Titov et al. (2018) [1] durchgeführt wurde, ergab eine Verbesserung der Genauigkeit um einen Faktor von etwa 4,5, wobei das Ergebnis auch mit der Vorhersage aus der Allgemeinen Relativitätstheorie übereinstimmt.

In Zukunft könnte eine weitaus höhere Genauigkeit im Ablenkungstest beispielsweise durch ein optisches Interferometer erreicht werden, das auf dem Mond oder im Weltraum eingesetzt wird. Ein solches Instrument und ein entsprechendes Experiment sind jedoch, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen, zur Zeit noch nicht realisierbar.

Weitere Informationen

Kolophon
Irwin Shapiro

ist Timken-Professor an der Universität Harvard und Senior Scientist der Smithsonian Institution.

Zitierung

Zu zitieren als:
Irwin Shapiro, “Messung der Lichtablenkung mit Radioteleskopen” in: Einstein Online Band 12 (2020), 12-1101