Gravitationswellendetektoren liefern 56 Kandidaten für kosmische Kollisionen
In gemeinsamen Messkampagnen, sogenannten Beobachtungsläufen, lauscht das weltweite Netzwerk von Gravitationswellendetektoren nach Signalen aus dem All. Am dritten Beobachtungslauf „O3“, der am 1. April 2019 startete, beteiligten sich die beiden LIGO-Detektoren in den USA, Virgo in Italien und GEO600 in Deutschland. Sie machten eine Reihe vielversprechender Beobachtungen.
Ein Artikel von Denise Müller-Dum
Die Epoche der Gravitationswellenastronomie sei angebrochen, zitierte im April 2020 das Fachmagazin Nature Reviews Physics den Geschäftsführer der LIGO-Gravitationswellendetektoren, David Reitze. Während die ersten beiden Beobachtungsläufe (O1 von September 2015 bis Januar 2016 und O2 von November 2016 bis August 2017) insgesamt elf Kollisionen kosmischer Objekte aufspürten, lieferte der im Frühjahr 2020 abgeschlossene dritte Beobachtungslauf satte 56 potentielle Ereignisse, im Schnitt also eines alle sechs Tage.
Der dritte Beobachtungslauf der Detektoren LIGO, Virgo und GEO600 startete am 1. April 2019 und sollte zwei Mal sechs Monate dauern, mit einer Wartungsunterbrechung im Oktober. Die Covid-19-Pandemie zwang die Kampagne allerdings zu einem vorzeitigen Ende am 27. März 2020 – einen Monat früher als geplant.
Die Liste der Signalkandidaten, die die Detektoren in dieser Zeit zusammentrugen, kann sich trotzdem sehen lassen – und sie ist für jedermann zugänglich. Denn erstmals informierte ein offenes Meldesystem (Public Alert System) fast in Echtzeit über mögliche Entdeckungen. Der Vorteil: Astronominnen und Astronomen konnten bei potenziellen Ereignissen schnell reagieren und versuchen, die möglichen Ursprungsorte der Gravitationswellen mit zusätzlicher Instrumentierung zu beobachten. Weil das so schnell wie möglich geschehen musste, wurden die Meldungen automatisiert binnen Minuten nach dem möglichen Ereignis veröffentlicht und erst danach von Gravitationswellenexpertinnen und -experten begutachtet. Natürlich stellten sich dabei manche Meldungen als Fehlalarm heraus und wurden zurückgezogen. Was sich wirklich hinter den Signalen verbirgt, zeigt sich ohnehin erst nach detaillierter wissenschaftlicher Analyse – und die braucht Zeit. 56 solcher Signalkandidaten müssen eingehend untersucht werden. Doch die ersten Ergebnisse legen bereits nahe, dass der dritte Beobachtungslauf wissenschaftlich äußerst fruchtbar war.
Bisherige Ergebnisse
GW190425
Die zweite Verschmelzung von Neutronensternen nach der Premiere am 17. August 2017 beobachteten die Astronominnen und Astronomen direkt im April 2019 kurz nach Beginn des Beobachtungslaufs, zunächst nur in einem der LIGO-Detektoren. Doch bei der Folgeanalyse fanden sie ein schwaches Signal auch in den Virgo-Daten. Dieses Ereignis, GW190425, fand in 290 bis 740 Millionen Lichtjahren Entfernung statt. Der Ort des Geschehens war also zwei bis sechs Mal weiter weg als die erste beobachtete Verschmelzung von Neutronensternen im August 2017. Bemerkenswert ist auch die Gesamtmasse des Systems: Mit 3,3 bis 3,7 Sonnenmassen ist sie höher als bei anderen Neutronensternpaaren, weshalb sich die Forscherinnen und Forscher auch nicht ganz sicher sind, ob es sich wirklich um ein solches handelt, oder ob sie es möglicherweise doch mit zwei besonders leichten Schwarzen Löchern zu tun haben. Mehr zu GW190425
GW190412
Ein weiteres Ereignis (GW190412) vom April 2019 stellte sich als Verschmelzung zweier Schwarzer Löcher mit sehr unterschiedlicher Masse heraus. Es war das erste Mal, dass Wissenschaftlinnen und Wissenschaftler ein Doppelsystem mit solch deutlichem Massenunterschied zwischen den beiden Körpern beobachten konnten. Verraten hat es sich durch eine Besonderheit im Gravitationswellensignal: Die Forschenden identifizierten eine „höhere Harmonische“, also eine Schwingung mit einem Vielfachen der Grundfrequenz – ähnlich wie bei Obertönen in der Musik, nur eben als Gravitationswelle, genau so, wie es die Allgemeine Relativitätstheorie für derartige Doppelsysteme vorhersagt. Mehr zu GW190412
GW190814
Ein solches Brummen der Harmonischen ließ sich auch im Ereignis GW190814 nachweisen, das die erstmalige Beobachtung der Verschmelzung eines Neutronensterns mit einem Schwarzen Loch zu sein schien. Wie die Auswertung ergab, war das größere der beiden Objekte tatsächlich ein Schwarzes Loch mit 23-facher Sonnenmasse. Was für ein Objekt sein neun Mal leichterer Partner war, gibt den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aber noch Rätsel auf: Scheint er doch für einen Neutronenstern zu schwer und für ein Schwarzes Loch zu leicht gewesen zu sein. Mehr zu GW190814
Simulation der Gravitationswellen-Obertöne, Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut)
GW190521
Ein besonders kurzes Signal von einem echten Schwergewicht haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mittlerweile auch ausgewertet: GW190521 ist das bisher massereichste und am weitesten entfernte Ereignis, das die Detektoren aufgespürt haben. Die Verschmelzung zweier Schwarzer Löcher mit einer Gesamtmasse von rund 150 Sonnenmassen fand vor sieben Milliarden Jahren statt, als das Universum etwa halb so alt war wie heute. Das Gravitationswellensignal, das die Detektoren im Mai 2019 empfingen, bezeugt erstmals die Geburt eines mittelschweren schwarzen Lochs, dessen einer Elternteil so schwer war, dass er möglicherweise selbst aus einer Verschmelzung hervorgegangen ist. Doch auch hier ist die wissenschaftliche Diskussion noch nicht abgeschlossen. Mehr zu GW190521
Weitere Informationen
Kolophon
ist Physikerin und Geowissenschaftlerin und arbeitet als Wissenschaftskommunikatorin in Bremen.
Zitierung
Zu zitieren als:
Denise Müller-Dum, “Gravitationswellendetektoren liefern 56 Kandidaten für kosmische Kollisionen” in: Einstein Online Band 12 (2020), 12-1102