Zur Geschichte der Gravitationslinsen

Von Einsteins Notizbüchern zu den Beobachtungen des 21. Jahrhunderts

Ein Artikel von Tilman Sauer

Einsteins Ableitung der Lichtablenkung im Schwerefeld der Sonne und die Bestätigung der auf der allgemeinen Relativitätstheorie basierenden quantitativen Vorhersage durch eine von Arthur Stanley Eddington (1882-1944) geleitete Expedition gehört zu den bekanntesten Episoden in der Geschichte der Relativitätstheorie.

Weniger bekannt ist, dass Einstein bereits 1912, drei Jahre bevor ihm bei der Formulierung seiner Allgemeinen Relativitätstheorie der endgültige Durchbruch gelang, die Grundidee einer wichtigen Konsequenz der Lichtablenkung in einem seiner Notizbücher festgehalten hatte: Die Idee einer geometrischen Gravitationslinse.

Einsteins Notizbuch und frühe Veröffentlichungen

Bei solch einer Gravitationslinse sieht ein Beobachter B aufgrund der Lichtablenkung durch die Masse M zwei Bilder ein und derselben fernen Lichtquelle Q, da ihn deren Licht auf zwei verschiedenen Wegen erreicht:

Schemazeichnung Gravitationslinse: Zwei Lichtstrahlen einer fernen Lichtquelle Q streichen an einer Masse M vorbei und werden so aufeinander zugebogen, dass sie beide den Ort des Beobachters B erreichen

Wahrscheinlich schrieb Einstein seine Notizen während eines Besuchs in Berlin im April 1912 nieder, als er sich mit den Astronomen Erwin Freundlich (1885-1964) traf und mit ihm Möglichkeiten erörterte, seine Ideen durch astronomische Beobachtungen zu überprüfen. In seinem Notizbuch finden sich sowohl kleine Skizzen wie auch die grundlegenden Formeln zur Beschreibung des Linseneffekts, wie in der folgenden Abbildung auszugsweise zu sehen:

Abbildung aus Einsteins Notizbuch

[Veröffentlicht in den Collected Papers of Albert Einstein, Bd. 3, S. 585; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Princeton University Press.]

Damals muss Einstein zu dem Schluss gekommen sein, dass der Doppelbild-Effekt niemals beobachtbar sein würde, und veröffentlichte seine Idee daher nicht. Tatsächlich hängt der Winkel zwischen den beiden Bildern von der Masse des Linsenobjekts und den Abständen zwischen Quelle, Linsenobjekt und Beobachter ab, und es ist äußerst unwahrscheinlich, dass zwei Sterne von der Erde aus gesehen so exakt hintereinanderstehen, wie es erforderlich wäre, um ein Doppelbild des hinteren Sterns beobachten zu können.

In den folgenden Jahren wurde die Idee von Gravitationslinsen immer wieder diskutiert. Einstein selbst erwähnt sie in einem Brief an seinen Freund, den Zürcher Gerichtsmediziner Heinrich Zangger (1874-1957) vom 15. Dezember 1915; der britische Physiker Oliver Lodge (1851-1940) veröffentlichte in der Fachzeitschrift Nature einen kurzen Artikel darüber. Eddington diskutierte die Idee in seinem 1920 unter dem Titel „Space, Time, and Gravitation“ erschienenen Buch über Relativität, und der russische Physiker Orest Chwolson (1852-1934) veröffentlichte entsprechende Überlegungen 1924 in der angesehenen Zeitschrift Astronomische Nachrichten. Einig waren sich diese Autoren darüber, dass der Natur des Effektes nach kaum Aussicht bestand, tatsächlich eine Gravitationslinse am beobachtbaren Himmel ausfindig zu machen.

Besuch von Mandl

Im Jahre 1936 erhielt Einstein, der drei Jahre zuvor in die Vereinigten Staaten emigriert war und nun in Princeton lebte, Besuch von einem tschechischen Emigranten und Hobbyingenieur namens Rudi W. Mandl. Mandl hatte Einstein aufgesucht, um einige weitreichende Ideen mit ihm zu diskutieren: Auch Mandl hatte den Gedanken gehabt, dass ein Stern als Gravitationslinse fungieren könnte. Auf dieser Idee aufbauend vermutete er, dass die biologische Evolution durch linsengebündeltes Sternenlicht beschleunigt worden sei, weil dieses die genetische Mutationsrate in lebenden Organismen verstärkt haben könnte.

Einstein empfing den Amateurwissenschaftler sehr freundlich. Seine eigenen Untersuchungen zu Gravitationslinsen hatte er wohl indessen vergessen, und offensichtlich kannte er auch die in der Zwischenzeit zu dem Thema publizierten Arbeiten nicht. Er räumte ein, dass die Idee einer Gravitationslinse interessant sei, riet Mandl jedoch von seinen weiteren Überlegungen ab.

Auf die Frage, ob er etwas zur Idee von Gravitationslinsen publizieren könne, winkte Einstein zunächst mit der Begründung ab, das Phänomen sei nicht beobachtbar. Nur auf hartnäckiges Drängen von Mandl hin stimmte Einstein schließlich zu, eine kurze Notiz in der Fachzeitschrift Science zu veröffentlichen, die den Titel „Linsenartige Wirkung eines Sterns durch Lichtablenkung im Gravitationsfeld“ trug:

Titel und erste Zeilen aus der Science-Veroeffentlichung von Albert Einstein, Science 84 1936

[Aus: Einstein, Science 84 (1936), S. 506;
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der AAAS]

In diesem kurzen Text gab Einstein genau die selben Formeln für die geometrische Optik einer Gravitationslinse an, wie er sie in seinem Notizbuch ungefähr 24 Jahre zuvor hergeleitet hatte, einschließlich des von ihm berechneten Vergrößerungsfaktors. Er erwähnte auch, dass es Mandl war, der ihn dazu angeregt hatte, diese Resultate herzuleiten und zu veröffentlichen.

Folgen der Science-Veröffentlichung

Unmittelbar nach der Veröffentlichung von Einsteins kurzem Text erschienen mehrere Artikel namhafter Wissenschaftler, die den Gedanken weiter entwickelten.

Der Astronom Fritz Zwicky (1898-1974) vom California Institute of Technology diskutierte die Möglichkeit, das Phänomen an den jüngst entdeckten extragalaktischen Nebeln, also an anderen Galaxien zu beobachten. Bei den typischen Massen, Ausdehnungen und wechselseitigen Abständen von Galaxien sind die Chancen, dass eine fernere und eine nähere Galaxie am Himmel hinreichend nahe beieinander stehen, um ein Doppelbild zu erzeugen, ungleich größer als bei zwei Sternen.

Der Astronom Henry Norris Russell aus Princeton veröffentlichte eine Arbeit, in welcher er darüber spekulierte, wie eine Siriusfinsternis, erzeugt durch den Begleiter von Sirius, einen Weißen Zwerg, den Bewohnern eines in passender Entfernung kreisenden hypothetischen Planeten erschiene. Zu solch einer Finsternis käme es, wenn sich der Weiße Zwerg aus Sicht der Planetenbewohner vor den Sirius schöbe; da der Weiße Zwerg sehr kompakt ist, würde er das Licht des Sirius merkbar ablenken. Irdischen Astronomen bliebe das Spektakel freilich verborgen. Russell führte sein Szenario denn auch als Beispiel für einen perfekten Test der Relativitätstheorie an, der leider in der Praxis undurchführbar ist.

Nichtsdestoweniger war mit der Glaubwürdigkeit, die Einsteins kleine Veröffentlichung der Idee verliehen hatte, der Gedanke von Gravitationslinsen in den festen Wissensbestand der theoretischen Astronomie aufgenommen worden.

Quasare und der erste Nachweis

Erneutes Interesse an der Theorie von Gravitationslinsen kam in den frühen 1960er Jahren nach der Entdeckung der Quasare auf – zu nennen sind hier vor allem Arbeiten von Yu. G. Klimow, S. Liebes Jr. und S. Refsdal. Quasare sind weit entfernte, leuchtstarke extragalaktische Objekte. Beide Eigenschaften zusammengenommen machen die Kombination aus einem fernen Quasar und einer Galaxie als ablenkender Masse zu einem vielversprechenden Kandidaten für eine beobachtbare Gravitationslinse.

Zu dieser Zeit wurde das Thema bereits auf einer sehr viel komplexeren Ebene erörtert. Der Gravitationslinseneffekt ist in der Tat nur dann einfach zu verstehen und zu berechnen, wenn er als Problem der geometrischen Optik für die Ablenkung von Lichtstrahlen gesehen wird, die von punktartigen Lichtquellen ausgesendet werden und durch perfekt kugelsymmetrische Gravitationsfelder hindurchgehen. In jedem realen Szenario jedoch wäre weder die Lichtquelle punktartig noch die als Linse wirkende Masse perfekt symmetrisch. In solch allgemeineren Situationen erzeugt eine Gravitationslinse komplexere Bilder: Vierfachbilder etwa, die kleeblattartig um ein (meist verdecktes) Zentralbild gruppiert sind (so genannte „Einstein-Kreuze“) oder andere multiple Bildstrukturen, Ringe, ringartige Formen oder bogenartige Verformungen. Um sie zu berechnen, müssen an die Stelle von Einsteins einfachen Ableitungen komplizierte Modelle im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie treten, deren Vorhersagen es dann mit astronomischen Beobachtungen zu vergleichen gilt.

Die erste Gravitationslinse wurde schließlich 1979 von Dennis Walsh, Robert F. Carswell und Ray J. Weymann beobachtet. Sie identifizierten den Doppelquasar Q0957+561 als linsenerzeugtes Doppelbild ein und desselben Hintergrundquasars. Hier ist ein Falschfarbenbild dieses Objekts, das Beobachtungen im Radiobereich sichtbar macht:

Doppel-Quasar Q0957+561

[Bild: CASTLeS]

Von der Erde aus betrachtet sind die beiden Bilder am Himmel circa sechs Bogensekunden entfernt, entsprechend der scheinbaren Ausdehnung einer Compact Disc (CD), die aus vier Kilometer Abstand betrachtet wird.

Gravitationslinsen auf dem Weg ins 21. Jahrhundert

Zu diesem ersten Beispiel für eine Gravitationslinse traten viele weitere. Ein schönes Einstein-Kreuz – ein typisches Kleeblattbild, wie es ausgedehnte Linsenmassen erzeugen können – sehen wir von dem Quasar QSO 2237+0305, der 1985 entdeckt wurde:

Einsteinkreuz QSO 2237+0305

[Bild: CASTLeS]

Im Jahre 1988 wurde die ausgedehnte Radioquelle mit der astronomischen Bezeichnung MG1131+0456 entdeckt und entpuppte sich als erstes Beispiel eines „Einstein-Rings“ mit einem Durchmesser von 1,75 Bogensekunden:

Einsteinring QSO 2237+0305

[Bild: CASTLeS]

Heute sind viele Dutzende von mehrfach abgebildeten Systemen sowie einige wenige Einstein-Ringe bekannt. Ende 2004 führte das CfA-Arizona Space Telescope Lens Survey (CASTLeS) 64 unzweifelhaft identifizierte Linsensysteme mit Mehrfachbildern auf, sowie weitere 18 Objekte als Kandidaten für solche Systeme.

Im 21. Jahrhundert ist der Gravitationslinseneffekt ein hochaktives Feld astrophysikalischer Forschung. Die erste Konferenz, die ausschließlich diesem Gebiet gewidmet war, hatte bereits 1983 in Liège in Frankreich stattgefunden; inzwischen gibt es regelmäßig jedes Jahr internationale Konferenzen zum Thema.

Grund für die steigende Popularität ist, dass Gravitationslinsen längst nicht mehr nur um des Phänomens selbst willen interessant sind. Nachdem eine beachtliche Anzahl von Linsensystemen unzweifelhaft ausgemacht worden sind, wird das Linsenphänomen jetzt immer mehr als Beobachtungswerkzeug genutzt, um astrophysikalische und kosmologische Fragen zu beantworten. Dazu gehören Abschätzungen der Menge von dunkler Materie in den Linsen und die Bestimmung der Werter der grundlegenden Parameter der Urknallmodelle.

Weitere Informationen

Einführende Informationen zu Einsteins Gravitationsphysik bietet der Abschnitt Allgemeine Relativitätstheorie von Einstein für Einsteiger.

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Das im Text erwähnte Notizbuch Einsteins ist veröffentlicht in M. J. Klein, A. J. Kox, J. Renn und R. Schulman (Hg.), „Collected Papers of Albert Einstein“ Band 3, Princeton University Press 1993, Anhang A. Wir danken der Princeton University Press für die Genehmigung zum Abdruck des oben gezeigten Auszuges. Ebenso danken wir der AAAS und dem Science Magazine für die Genehmigung, die oben gezeigten ersten Zeilen des Einsteinschen Science-Artikels von 1936 abzudrucken.

Einsteins Schriften lassen sich online auf dem Webportal Einstein Archives Online einsehen. Dort finden sich sowohl der Notizbucheintrag aus dem Jahre 1912 als auch das Manuskript zum Artikel von 1936.

Der Katalog des CASTLe Survey ist zugänglich über die CASTLeS Homepage

Eine frühere Version dieses Textes erschien in dem Essayband „Albert Einstein – Ingenieur des Universums: Hundert Autoren für Einstein“ (Hg. Jürgen Renn, Wiley-VCH: Berlin 2005), einem der Katalogbände zur Ausstellung „Albert Einstein – Ingenieur des Universums“.

Kolophon
Tilman Sauer

ist Professor für die Geschichte der Mathematik und Naturwissenschaften an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.

Zitierung

Zu zitieren als:
Tilman Sauer, “Zur Geschichte der Gravitationslinsen” in: Einstein Online Band 04 (2010), 03-1104