Der Blick in die chemische Vergangenheit

Wie Astronomen die Elementhäufigkeiten im frühen Universum rekonstruieren, um entsprechende Vorhersagen der Urknallmodelle zu überprüfen

Ein Artikel von Achim Weiss

Aus den Urknallmodellen ergeben sich konkrete Vorhersagen für die Elemententstehung in den ersten Minuten nach dem Urknall, die so genannte primordiale Nukleosynthese. „Primordial“ ist dabei das Adjektiv für alles, was die Frühzeit des Kosmos betrifft, „Nukleosynthese“ der Fachausdruck für die Entstehung von Atomkernen. Die Vorhersagen betreffen die relativen Häufigkeiten verschiedener leichter Atomkerne, insbesondere von Wasserstoff (hier besteht jeder Kern aus einem einzelnen Proton), Deuterium, Helium-3, Helium-4 und Lithium-7. Einen Überblick bietet das Vertiefungsthema Elementenstehung im frühen Universum. In diesem Text soll es um die wichtige Frage gehen, wie es möglich ist, die das frühe Universum betreffenden Vorhersagen mit Hilfe astronomischer Beobachtungen auf die Probe zu stellen – wie man einen Blick in die chemische Vergangenheit unseres Kosmos werfen und die Häufigkeiten der verschiedenen Elemente kurz nach dem Urknall rekonstruieren kann.

Zurück zum Ursprung?

Seit die ersten Sterne zu leuchten begannen, also seit einer Zeit von drei- bis vierhundert Millionen Jahren nach dem Urknall, haben sich die relativen Häufigkeiten der leichten Atomkerne immer weiter verändert. Sterne (wie unsere Sonne) sind gigantische Kernfusionsreaktoren – die Energie, die sie in Form von Licht und anderer elektromagnetischer Strahlung ins All schicken, wird dadurch frei, dass im Sterneninneren laufend leichtere zu schwereren Atomkernen verschmelzen. Wenn massearme Sterne ihre äußeren Schichten abstoßen, so dass sich so genannte planetarische Nebel bilden, oder wenn massereichere Sterne einen Großteil ihrer Materie bei einer gewaltigen Supernovaexplosion ins All schleudern, dann werden damit auch die Fusionsprodukte weiträmig im Kosmos verteilt. Die relativen Häufigkeiten der verschiedenen Atomkerne in den verschiedenen Regionen unseres Kosmos sind so fortwährenden Änderungen unterworfen, die als „chemische Entwicklung“ bezeichnet werden.

Wenn es darum geht, die Elementhäufigkeiten im frühen Universum zu rekonstruieren, dann halten die Astronomen Ausschau nach Himmelsobjekten, deren Zusammensetzung sich seit der Frühzeit der kosmischen Entwicklung so wenig wie möglich verändert hat. Als Indikatoren nutzen sie dabei Elemente wie Sauerstoff und Stickstoff, die zwar bei der Kernfusion im Inneren von Sternen entstehen können, nicht aber bei den Reaktionen im frühen Universum. Je mehr Sauerstoff und Stickstoff eine Region enthält, umso weiter werden ihre Elementhäufigkeiten von den primordialen, ursprünglichen Werten abweichen.

Helium-4 und Zwerggalaxien

Die direkteste – und damit robusteste – Vorhersage der Berechnungen der primordialen Nukleosynthese betrifft Helium-4, dessen Atomkerne aus je zwei Protonen und zwei Neutronen bestehen. Allerdings entsteht Helium-4 auch bei den üblichen Kernfusionsreaktionen in Sternen – und wird in den meisten Sternen zudem seinerseits zu schwereren Atomkernen weiterverarbeitet.

Um die ursprüngliche Heliumhäufigkeit zu bestimmen, beobachten Astronomen daher so genannte Zwerggalaxien. Ein Beispiel zeigt das folgende Bild: „I Zwicky 18“, eine Zwerggalaxie aus unserer kosmischen Nachbarschaft, nur 45 Millionen Lichtjahre von uns entfernt:

[Bild: NASA, ESA, Y. Izotov (Main Astronomical Observatory, Kyiv, UA) und T. Thuan (University of Virginia)]

Einige Zwerggalaxien enthalten vergleichsweise wenig Sauerstoff und Stickstoff. Dies ist ein deutliches Zeichen dafür, dass es sich um Objekte handelt, die keine nennenswerte chemische Evolution durchlaufen haben, sprich: in denen stellare Kernfusionsreaktionen die ursprünglichen Elementhäufigkeiten nicht allzu sehr verändert haben dürften. Um dem primordialen Heliumgehalt auf die Spur zu kommen, konzentrieren die Astronomen ihre Aufmerksamkeit auf die Zwerggalaxien mit dem geringsten Sauerstoff- und Stickstoffgehalt und suchen darin nach so genannten HII-Regionen, Gaswolken, deren Hauptbestandteil ein Plasma aus Protonen (Wasserstoff-Atomkernen) und Elektronen ist. Bei genügend hoher Temperatur ereignen sich in solchen Wolken atomare Reaktionen, bei denen Heliumionen ein zuvor verlorenes Elektron zurückgewinnen. Dabei wird elektromagnetische Strahlung mit ganz bestimmten Frequenzen freigesetzt. Vergleicht man bei astronomischen Beobachtungen der Wolke die Intensität dieser „Emissionslinien“ mit der Intensität von entsprechenden Wasserstoff-Linien, dann lässt sich die Heliumhäufigkeit der Wolke erschließen. Auf ähnliche Weise bestimmt man die Häufigkeiten von Stickstoff und Sauerstoff.

Zwar ist es so praktisch nicht möglich, festzustellen, ein wie großer Anteil des Heliums auf Helium-4 entfällt und wieviel auf Helium-3 (letzteres enthält nur ein einziges Neutron per Atomkern). Doch Messungen in unserer eigenen Galaxie zeigen, dass Helium-3 extrem selten ist – von dieser Art ist weniger als ein Tausendstel eines Prozents des gesamten Heliums. Die gemessene Heliumhäufigkeit einer gegebenen Zwerggalaxie dürfte daher mit großer Genauigkeit der Häufigkeit von Helium-4 entsprechen.

Werden die Häufigkeitsmessungen für eine Anzahl verschiedener Wolken in verschiedenen Zwerggalaxien durchgeführt, dann zeigt sich, dass die Häufigkeitswerte für Helium-4 und (beispielsweise) Sauerstoff miteinander zusammenhängen:

Diagramm, in dem die Häufigkeitswerte für Helium-4 und für Sauerstoff gegeneinander aufgetragen sind

[Bild verwendet Daten aus Izotov & Thuan, ApJ 511 (1999) , 639 und ApJ 500 (1998), 188]

Jeder Punkt im Diagramm entspricht den Durchschnittswerten aller HII-Regionen einer bestimmten Zwerggalaxie. Die waagerechte Position des Punktes zeigt die Sauerstoffhäufigkeit an, die senkrechte Position die von Helium-4. Offensichtlich sind die verschiedenen Punkte nicht etwa über die gesamte Diagrammfläche verteilt, sondern liegen stattdessen in etwa auf einer Geraden: Je mehr Sauerstoff eine Zwerggalaxie enthält, umso mehr Helium-4 enthält sie auch. Das gibt uns die Möglichkeit, durch Extrapolation diejenige Frage zu beantworten, die uns eigentlich interessiert: Wieviel Helium-4 würde eine Zwerggalaxie enthalten, die überhaupt keinen Sauerstoff enthält – sprich, in der noch überhaupt keine stellare Kernfusion stattgefunden hat? Das Ergebnis ist ein Schätzwert für die Helium-4-Häufigkeit im frühen Universum.

Alle Abschätzungen dieser Art liefern in etwa den gleichen Wert von 24 Prozent – gar nicht übel für eine einfache Extrapolation. Nur im Detail gibt es Abweichungen zwischen den Ergebnissen der verschiedenen Forschergruppen, die diese Art von Auswertung vorgenommen haben. Nehmen wir die Abweichungen als Maß für die Genauigkeit dieser Häufigkeitsbestimmungen, dann liegt der Häufigkeitswert immer noch mit großer Sicherheit zwischen 23,2 und 25,8 Prozent.

Deuterium und Quasare mit hoher Rotverschiebung

Für Deuterium („schwerer Wasserstoff“, bei dem jeder Kern ein Proton und ein Neutron enthält), ein weiteres der leichten Elemente, die im Verlauf der primordialen Nukleosynthese gebildet werden, ist die Lage eine etwas andere. Bei der Kernfusion im Inneren von Sternen wird jegliches Deuterium, sei es nun in der Frühzeit des Universums oder bereits im Inneren des Sternes selbst entstanden, rasch zu Helium-3 umgewandelt. Dementsprechend kann die Deuteriumhäufigkeit durch stellare Kernfusion nur ab-, niemals aber zunehmen. Alles Deuterium, das die Astronomen beobachten können, muss bereits kurz nach dem Urknall entstanden sein; umgekehrt ergeben solche Beobachtungen immer nur eine Untergrenze für die Deuteriumhäufigkeit im frühen Universum.

Die derzeit besten Abschätzungen der primordialen Deuteriumhäufigkeit beruht auf Untersuchungen einiger der ältesten Himmelsobjekte, die Astronomen überhaupt beobachten können: ferner Quasare, der extrem hellen Kerne aktiver Galaxien. Die für diese Beobachtung ausgewählten Quasare sind über zehn Milliarden Lichtjahre von uns entfernt sind. Ihr Licht zeigt uns demnach das Universum, wie es vor zehn Milliarden Jahren ausgesehen hat. Untersucht man das Spektrum der Quasarstrahlung, insbesondere spezielle Teile davon („Absorptionslinien“) die auf Deuterium und auf herkömmlichen Wasserstoff zurückgehen, dann lässt sich die Deuteriumhäufigkeit ermitteln. Den derzeit besten Ergebnissen zufolge kam im frühen Universum je ein Deuteriumkern auf 30.000 Wasserstoffkerne; etwas genauer (und in Zehn-Hoch-Schreibweise) standen Deuterium und Wasserstoff im Verhältnis (3 ± 0,4)·10-5. Die Ungenauigkeit der Messungen könnte größer sein als hier angegeben, falls sich den Astronomen unbekannte kosmische Wolken zwischen der Erde und den betreffenden Quasaren befinden, die einen Teil der vom Quasar ausgesandten Strahlung herausfiltern.

Helium-3 und Gaswolken in unserer Milchstraße

Die Abschätzung der primordialen Häufigkeit von Helium-3 ist in mehrerlei Hinsicht schwierig. In Sternen mit geringer Masse werden beachtliche Mengen von Helium-3-Kernen produziert, in massereicheren Sternen dagegen werden ebenso beachtliche Mengen zerstört (genauer: in noch schwerere Atomkerne umgewandelt). Zeigen Beobachtungen eines bestimmten Himmelsobjekts diesen oder jenen Helium-3-Gehalt an, lässt dies noch keine direkten Rückschlüsse auf die ursprüngliche Häufigkeit dieser Atomkernsorte zu.

Hinzu kommt, dass Helium-3- und Helium-4-Atome äußerst ähnliche Eigenschaften haben – sie sind sich weitaus ähnlicher als beispielsweise herkömmlicher Wasserstoff und Deuterium. Daher ist es bislang so gut wie unmöglich, Helium-3 in anderen Galaxien nachzuweisen, geschweige denn in fernen Quasaren.

Stattdessen wenden sich die Astronomen unserer Heimatgalaxie zu. Dort zeichnen die Häufigkeitsbestimmungen für eine Vielzahl verschiedener Elemente (unter anderem Sauerstoff und Stickstoff) das gleiche Bild: je näher eine Region dem galaktischen Zentrum ist, umso deutlicher zeigt sich der Einfluss von stellaren Kernfusionsreaktionen. Das legt nahe, dass bereits Untersuchungen innerhalb unserer eigenen Galaxie zeigen könnten, wie sich der Helium-3-Gehalt aufgrund der Kernfusion in Sternen mit der Zeit verändert hat und wo der ursprüngliche Wert gelegen haben dürfte. Tatsächlich ergeben die Messungen an HII-Wolken – die freilich mit einiger Unsicherheit behaftet sind -, dass die Häufigkeit von Helium-3 in etwa konstant ist, unabhängig vom Abstand zum galaktischen Zentrum:

Helium-3-Häufigkeit in Abhängigkeit vom Abstand zum galaktischen Zentrum

[Bild verwendet Daten aus Bania, Rood &; Balser, Nature 415 (2002), 54-57]

Offenbar lässt die stellare Kernfusion die Helium-3-Häufigkeit insgesamt unverändert. Ein überraschendes Ergebnis, legt man die heutigen Modelle der Sternentwicklung zugrunde, denn diese sagen voraus, die Helium-3-Häufigkeit müsse aufgrund der stellaren Kernfusion mit der Zeit deutlich zunehmen. Anscheinend sind diese Modelle an irgendeiner Stelle unvollständig, und wir lernen aus den Helium-3-Messungen mehr über Sternentwicklung als über die Elemententstehung im frühen Universum.

Aus den Messungen an einer Vielzahl von HII-Wolken folgt ein Mittelwert für den Helium-3-Gehalt unserer Milchstraße. Wenn wir den heutigen Modellen der Sternentwicklung zumindest soweit vertrauen, dass in Sternen im Mittel mehr Helium-3 erzeugt als zerstört wird, stellt dieser Wert eine Obergrenze für die primordiale Helium-3-Häufigkeit dar. Beschränkt man sich auf eine dem galaktischen Zentrum sehr ferne HII-Region, die besonders genau untersucht ist (und deren Elementhäufigkeiten, siehe oben, den ursprünglichen Werten besonders nahe kommen sollte), dann lässt sich diese Obergrenze noch merklich verbessern. In der betreffenden Region kommen auf jeden Helium-3-Kern rund 91.000 Wasserstoffkerne, entsprechend einem Verhältnis von (1,1 ± 0,2)·10-5.

Lithium-7

Damit kommen wir zum letzten und in einiger Hinsicht interessantesten Element: Lithium-7 (mit 3 Protonen und 4 Neutronen pro Kern). Solche Kerne werden bei Fusionsreaktionen im Inneren einiger Sterne erzeugt, deutlich häufiger allerdings zerstört. Als weitere Quelle kommen Reaktionen hinzu, an denen die so genannte kosmische Strahlung beteiligt ist – eine Strahlung aus hochenergetischen Partikeln (vor allem Protonen), die mit Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit durch das All eilen. Treffen Teilchen dieser Strahlung mit interstellarem Gas zusammen, können dabei unter anderem Lithium-7-Kerne entstehen.

Glücklicherweise scheint es, als gäbe es im Universum – sogar in unserer eigenen Galaxie! – Objekte, deren Lithium-7-Häufigkeit den ursprünglichen Wert bewahrt hat: Eine besondere Klasse von Sternen, die besonders alt und vergleichsweise kühl sind.

Um das zu begründen, muss man wissen, dass Sterne eine Art Zwiebelschalenstruktur aufweisen: Kernfusion findet in den inneren, heißeren Regionen statt, nicht aber in den Außenschichten. Die äußersten Sternschichten sollten daher die Elementhäufigkeiten desjenigen Materials widerspiegeln, aus denen der Stern entstanden ist. Für sehr alte Sterne sollten dies gerade die Elementhäufigkeiten des frühen Universums sein. Für jüngere Sterne, deren Ausgangsmaterial bereits die Fusionsprodukte älterer Sterne enthält, werden die Elementhäufigkeiten in den Außenschichten dagegen von den primordialen Werten abweichen.

Die Häufigkeiten in der äußeren Sternhülle lassen sich durch eine genaue Untersuchung des von dem Stern empfangenen Lichts bestimmen (genauer: einer Spektralanalyse, bei der bestimmte Emissions- und Absorptionslinien untersucht werden). Wieder einmal zeigt die Anwesenheit von Elementen wie Sauerstoff, Stickstoff, oder Eisen die chemische Evolution an, die das Material durchlaufen hat: Bei einem deutlicher Anteil solcher Elemente ist der Stern vergleichsweise jung und hat sich aus den Überresten von Vorläufersternen gebildet. Geringe Anteile an diesen Elementen deuten auf ein hohes Sternalter hin.

Für jüngere Sterne – erkennbar an ihrem hohen Eisengehalt – kann die Häufigkeit von Lithium-7 stark variieren. Das folgende Diagramm trägt für eine Reihe solcher Sterne den Lithium-7-Gehalt (senkrechte Achse, Kennzahl ist die Anzahl von Lithium-7-Kernen im Vergleich mit der Anzahl von Wasserstoffkernen) gegen den Eisengehalt auf (waagerechte Achse, Kennzahl ist der Eisengehalt relativ zu dem der Sonne):

Diagramm, in dem für verschiedene Sterne Eisengehalt (waagerechte Achse) und Lithium-7-Gehalt (senkrechte Achse) aufgetragen sind: Junge Sterne

[Bild verwendet Daten von Lambert & Reddy, Monthly Notes of the Royal Astronomical Society 349 (2004), 757]

Die Punkte, von denen jeder den Häufigkeitswerten eines bestimmten Sternes entspricht, bilden eine ausgedehnte Wolke – zwischen den Häufigkeiten von Lithium-7 und Eisen scheint es für diese Sterne keinen direkten Zusammenhang zu geben. Das ist nicht überraschend, denn die Menge von Lithium-7, die bei Kernfusionsreaktionen im Sterneninneren produziert wird, hängt empfindlich von Eigenschaften wie der Masse, der Temperatur und der ursprünglichen Zusammensetzung des Sterns ab.

Für die ältesten Sterne, deren äußere Hüllen weniger als ein Zehntel soviel Eisen enthalten wie unsere Sonne, ergibt sich ein deutlich anderes Bild. Für die allermeisten von ihnen ist der Lithium-7-Gehalt so gut wie konstant, wie in dem nachfolgenden Diagramm zu sehen ist:

Diagramm, in dem für verschiedene Sterne Eisengehalt (waagerechte Achse) und Lithium-7-Gehalt (senkrechte Achse) aufgetragen sind: Plateausterne

[Bild verwendet Daten von Charbonnel &; Primas, Astronomy and Astrophysics 442 (2005), 961]

Dass die Lithium-7-Häufigkeit in den äußersten Hüllenregionen von Stern zu Stern so wenig variiert, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass wir es mit Sternen zu tun haben, die aus Ausgangsmaterial ein und derselben Zusammensetzung entstanden sind – aller Wahrscheinlichkeit nach eben demjenigen ursprünglichen Sternmaterial, dessen Elementhäufigkeiten dieselben waren wie kurz nach dem Urknall.

Der konstanten Lithium-7-Häufigkeit verdanken diese Sterne auch ihren Namen: Astronomen nennen sie „Lithium-Plateausterne“ oder, alternativ, Spite-Plateausterne, nach den Entdeckern dieser Häufigkeitsverteilung. Aus dem, was über die Physik von Sternen bekannt ist, lässt sich abschätzen, dass die Lithium-Plateausterne zwischen 10 und 13 Milliarden Jahre alt sein müssen – die ältesten darunter haben rund 95 Prozent der Geschichte des Universums vom Urknall bis heute miterlebt!

Im Schnitt kommt in den Außenbereichen dieser Sterne je ein Lithium-7-Kern auf rund 8 Milliarden Wasserstoffkerne – das Verhältnis von Lithium-7- zu Wasserstoffkernen liegt zwischen 1,3·10-10 und 2,0·10-10. Freilich wird diese Abschätzung nur von begrenzter Genauigkeit sein. So sollte man beispielsweise erwarten, dass mit der Zeit immer mehr Lithium-7-Kerne in tiefere Sternatmosphährenschichten absinken – das kosmische Analogon zur Sedimentation: Wer eine Wasser-Sand-Mixtur ordentlich durchmischt und anschließend für längere Zeit stehen lässt wird sehen, wie sich der Sand, dem Zug der Erdschwerkraft folgen, auf dem Boden des Behälters sammelt.

Vorhersagen und Beobachtungen

Die beschriebenen Häufigkeitsabschätzungen liefern den Brückenschlag zwischen den Vorhersagen der Urknallmodelle und astronomischen Beobachtungen. Das Ergebnis wird üblicherweise in Diagrammen dargestellt, in denen die Elementhäufigkeiten gegen den Wert eines Parameters Eta aufgetragen sind. Eta ist das Verhältnis der Zahl der Protonen und Neutronen im Universum zur Zahl der Photonen der kosmischen Hintergrundstrahlung. Die folgenden Abbildungen konzentrieren sich auf einen vergleichsweise engen Wertebereich für Eta; eine Überblicksabbildung mit einem größen Wertebereich findet sich im Vertiefungsthema Elemententstehung im frühen Universum.

Beginnen wir mit Helium-4:

Helium-4-Häufigkeit aufgetragen gegenüber Eta

[Bild verwendet Daten von E. Vangioni, Institut d’Astrophysique de Paris]

In diesem und den nachfolgenden Diagrammen sind auf der waagerechten Achse jeweils die verschiedenen Werte von Eta aufgetragen. Dabei kommt eine logarithmische Skala zum Einsatz; 10-9 entspricht einem Proton oder Neutron pro Milliarde Photonen, 10-8 einem pro hundert Millionen, und so weiter (vgl. den Eintrag Zehn-hoch-Schreibweise). Der senkrechte beige Streifen steht für eine jüngst erfolgte Bestimmung von Eta zu (6,1 ± 0,2)·10-10, die aus Untersuchungen der kosmischen Hintergrundstrahlung des Satellitenteleskops Wilkinson Microwave Anisotropy Probe (WMAP) folgt.

In diesem Diagramm ist auf der senkrechten Achse der Helium-4-Massenanteil aufgetragen. Ein Wert von 0,25 zeigt dabei an, dass 25 Prozent der Gesamtmasse aller Atomkerne im Kosmos auf Helium-4-Kerne entfällt. Die eingezeichnete Kurve stellt die theoretische Vorhersage dar und zeigt, wie die Helium-4-Häufigkeit gemäß der Urknallmodelle von Eta abhängen sollte.

Wie in dem Diagramm zu sehen, ist die oben angegebene vorsichtige Schätzung der Helium-4-Häufigkeit mit der theoretischen Vorhersage für den von WMAP bestimmten Eta-Wert (sowie für einen nicht allzu schmalen Bereich benachbarter Eta-Werte) vereinbar.

Das nächste Diagramm zeigt die Ergebnisse für Helium-3 und Deuterium:

Häufigkeiten für Deuterium und Helium-3, aufgetragen gegen Eta

[Bild verwendet Daten von E. Vangioni, Institut d’Astrophysique de Paris]

Diesmal ist auf der senkrechten Achse die Häufigkeit aufgetragen. Für Deuterium beispielsweise bedeutet ein D/H-Wert von 10-4, dass auf jeden Deuteriumkern 10.000 Wasserstoffkerne kommen. Die aus den Beobachtungen abgeleitete Obergrenze für 3He/H stimmt gut mit dem Wert überein, den die Theorie für das von WMAP gemessene Eta vorhersagen – Vorhersagekurve, der senkrechte beige Streifen der WMAP-Messung und der waagerecht eingezeichnete Häufigkeitsbereich überlappen. Noch beeindruckender ist die Übereinstimmung für die Deuteriumhäufigkeit.

Für Lithium-7 dagegen ist der Vergleich problematisch, wie in dem nachfolgenden Häufigkeitsdiagramm zu sehen:

Diagramm, in dem die Lithium-7-Häufigkeit gegen Eta aufgetragen ist

[Bild verwendet Daten von E. Vangioni, Institut d’Astrophysique de Paris]

Im Vergleich mit den vorigen Diagrammen zeigt sich, dass die beobachtete Lithium-7-Häufigkeit zwar mit einem Eta-Wert vereinbar wäre, der zum unteren Ende der erlaubten Helium-4-Häufigkeit passt. Die beobachtete Deuterium-Häufigkeit und der von WMAP bestimmte Wert für Eta passen dagegen nicht zum Beobachtungswert für Lithium-7. Um zu verstehen, wie dies zustande kommt, müssten wir herausfinden, warum Lithium-7 in den Lithium-Plateau-Sternen anscheinend etwas weniger als halb so häufig ist wie im frühen Universum.

Insgesamt passen die Vorhersagen der Urknallmodelle zur Elemententstehung im frühen Universum gut zu Abschätzungen aus den astronomischen Beobachtungen. Für Lithium-7 und den eher unsicheren Wert für Helium-3 ist allerdings noch einiges an Arbeit vonnöten, um die Schätzungen zu verbessern und auf eine solidere Grundlage zu stellen. Freilich ist zu erwarten, dass die Astrophysiker dabei mehr über die Physik der Sterne dazu lernen als über die Frühzeit unseres Kosmos.

Weitere Informationen

Die relativistischen Grundkonzepte, die diesem Vertiefungsthema zugrundeliegen, werden in Einstein für Einsteiger erklärt, insbesondere im Abschnitt Kosmologie.

Einen Überblick über die primordiale Nukleosynthese bietet das Vertiefungsthema Elemententstehung im frühen Universum; Informationen zur Physik der Elemententstehung im frühen Universum das Vertiefungsthema Gleichgewicht und Veränderung. Verwandte Vertiefungsthemen auf Einstein-Online finden sich in der Kategorie Kosmologie.

Quellen

Die Kurven, die sich aus den theoretischen Vorhersagen ergeben, wurden freundlicherweise von E. Vangioni, Institut d’Astrophysique de Paris zur Verfügung gestellt (persönliche Mitteilung, 2005); Informationen zu den zugrundeliegenden Rechnungen bietet

  • Coc, A. et al., Astrophysical Journal 600 (2004), p. 544 [online verfügbar als E-Print astro-ph/0309480]

Die Häufigkeitsschätzungen aufgrund von astronomischen Beobachtungen wurden den im folgenden aufgeführten Artikeln entnommen. Da sowohl die Vorhersagen als auch die Analyse der Beobachtungsdaten stete Fortschritte macht, ist zu erwarten, dass sich die Abschätzungen im Laufe der nächsten Jahre noch etwas ändern.

  • Helium-4: Olive, K. A. & E. A. Skillman, Astrophysical Journal 617 (2004), p. 29 [online verfügbar als E-Print astro-ph/0405588]
  • Helium-3: Bania, T. M., R. T. Rood & D. S. Balser, Nature 415 (2002), p. 54.
  • Deuterium: O’Meara, J.M., et al., Astrophysical Journal 552 (2001), p. 718 [online verfügbar als E-Print astro-ph/0011179]
  • Lithium-7: Charbonnel, C. & F. Primas, Astronomy & Astrophysics 442 (2005), p. 961 [online verfügbar als E-Print astro-ph/0505247]
Kolophon
Achim Weiss

ist Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching bei München, wo er sich mit der Physik der Sterne beschäftigt.

Zitierung

Zu zitieren als:
Achim Weiss, “Der Blick in die chemische Vergangenheit” in: Einstein Online Band 02 (2006), 02-1113