Träge und schwere Masse
Über die verschiedenen Rollen der Masse, und über das schwache Äquivalenzprinzip
Ein Artikel von Markus Pössel
Die Masse spielt in der klassischen Physik eine sonderbare Mehrfachrolle. Daraus ergibt sich ein Unterschied zwischen der Gravitation und allen anderen Kräften – ein Unterschied, der am Anfang von Einsteins Entwicklung seiner Allgemeinen Relativitätstheorie stand.
Masse und Trägheit
Masse ist ein Maß für die Trägheit eines Körpers. Angenommen, ich befinde mich im leeren Weltraum, fernab aller größeren Gravitationsquellen. Ich stehe auf der Außenfläche meiner Raumstation, von Fußklammern sicher festgehalten, und neben mir schweben eine Kiste und ein kleiner Ball. Nun gebe ich sowohl der Kiste als auch dem Ball einen Schubs gleicher Stärke. Der Ball wird dadurch deutlich beschleunigt und fliegt mit hoher Geschwindigkeit davon. Die Kiste dagegen konnte mein Schubs nur äußerst wenig beschleunigen. Mit nur sehr geringer Geschwindigkeit driftet sie von mir fort:
Der Unterschied zwischen Ball und Kiste? Die Kiste hat eine deutlich größere Masse und fliegt damit unter denselben Stoßbedingungen deutlich langsamer davon als der Ball mit seiner geringeren Masse.
Das Beispiel gibt zwar eine ungefähre Vorstellung davon, was es mit der Masse auf sich hat. Für eine Definition eignet es sich allerdings nur bedingt, denn dazu müssten wir erst angeben, wann denn zwei Kraftstöße die gleiche Stärke haben. Stattdessen ist es nützlich, einfache Stoßprozesse zwischen verschiedenen Körpern zu betrachten. Im Weltall kann man die Körper zu diesem Zweck einfach aufeinander zufliegen lassen. Im irdischen Labor muss man Vorkehrungen treffen, um Reibungseinflüsse auszuschalten, etwa indem man die Körper auf den Schlitten einer Luftkissenbahn installiert, wie sie zur Standardausrüstung schulischer Physiklabors gehört.
Am einfachsten ist es, wenn man die Körper frontal aufeinander zufliegen lässt („zentraler Stoß“). Die Bewegung der Körper findet dann vor wie nach dem Stoß auf ein und derselben Geraden statt:
Im allgemeinen werden sich die Geschwindigkeiten der Kugeln beim Stoß ändern. Wir wollen diese Geschwindigkeitsänderung für den ersten Körper Δv1 nennen, die Geschwindigkeitsänderung des zweiten Körpers Δv2 – jede Geschwindigkeitsänderung ist dabei einfach die Geschwindigkeit des Körpers nach dem Stoß minus seine Geschwindigkeit vor dem Stoß. Das Verhältnis der Geschwindigkeitsänderungen der beiden Körper, so zeigen entsprechende Versuche, ist von den Anfangsgeschwindigkeiten der Körper unabhängig. Es spiegelt demnach Eigenschaften der Körper wieder, nicht eine Eigenschaft der Ausgangssituation vor dem Stoß. Wir nutzen es, um die Masse zu definieren, und zwar über die Beziehung
wobei das Minuszeichen benötigt wird, um ein positives Zahlenverhältnis zu erhalten. Sobald wir eine Masseneinheit definiert (sprich, einen Körper willkürlich als Bezugskörper ausgewählt) haben, können wir durch die Bestimmung von Geschwindigkeitsänderungen bei Stoßversuchen im Prinzip die Massen aller anderen Körper bestimmen.
Diese Definition entspricht unseren intuitiven Vorstellungen über große und geringe Masse beziehungsweise Trägheit. Besitzt etwa der erste Körper eine ungleich größere Masse als der zweite, so ist die linke Seite der obigen Gleichung eine große Zahl. Dann wird der erste Körper seine Geschwindigkeit beim Zusammenstoß mit dem zweiten allerdings kaum ändern, der zweite Körper die seine dagegen umso mehr. Das entspricht der Aussage der obigen Formel, denn es besagt ja, dass die rechte Seite der Gleichung ebenfalls eine große Zahl ist. Die Animation oben zeigt ein Beispiel: Am Anfang sind die Anfangsgeschwindigkeiten der türkisen und der violetten Kugel entgegengesetzt gleich. Die Masse der violetten Kugel ist freilich vier Mal so groß wie die der türkisen; die violette Kugel wird daher nur etwas abgebremst, die Geschwindigkeit der türkisen Kugel ändert dagegen drastisch: sie prallt ab und fliegt anschließend deutlich schneller in die Richtung zurück, aus der sie kam.
Trägheit und Kräfte
Die solchermaßen definierte Masse spielt eine Schlüsselrolle in der klassischen Mechanik – der Lehre davon, wie sich Objekte unter dem Einfluss von Kräften bewegen. Kräfte lassen sich dabei beispielsweise, wie in der Schule üblich, mit Hilfe geeignet gewählter Sprungfedern messen: Die Dehnung einer Sprungfeder, an die eine Kraft angreift (an der man beispielsweise mit der Hand zieht) ist ein Maß für die Kraftstärke – zumindest für Bereiche, in denen diese Dehnung recht gering ist:
Mit unserem subjektiven Empfinden stimmt diese Definition insofern überein, als dass stärkeres Ziehen auch zu einer stärkeren Dehnung der Feder führt. Über die subjektive Empfindung hinaus liefert diese Anordnung nun aber die Möglichkeit, Kraftstärken zueinander ins Verhältnis zu setzen – wir können genau feststellen, wann eine Kraft zwei-, drei- oder viermal so stark ist wie eine andere Kraft.
Das zweite Newtonsche Axiom der Mechanik gibt an, wie die Kraft, die auf einen Körper wirkt, mit der Beschleunigung zusammenhängt, die er erfährt. Verkürzt gesagt gilt
Kraft = Masse · Beschleunigung
oder, umgekehrt geschrieben,
Beschleunigung = Kraft / Masse.
Daraus ergibt sich einmal mehr, dass Ball und Kiste, auf die ich mit derselben Kraft einwirke, unterschiedlich beschleunigen: Die Masse des Balls ist wesentlich geringer, und der Ausdruck „Kraft geteilt durch Masse“, also die Beschleunigung, ist daher deutlich größer als bei der Kiste.
Ohne Anschauung des Objekts: Gravitationsbeschleunigung
Wo die Gravitation im Spiel ist, kommt es zu einem besonderen Phänomen. Das können wir beispielsweise hier auf der Erdoberfläche beobachten. Lässt man die verschiedensten Objekte unter dem Gravitationseinfluss zu Boden fallen, dann stellt man fest, dass sie alle in der gleichen Weise beschleunigen. Zumindest gilt das, wenn man die Effekte der Luftreibung ausschaltet, indem man die Fallversuche etwa in einer Vakuumkammer durchführt: Ob es nun eine Feder ist, die man fallen lässt, oder ein Bleigewicht – eine Sekunde nach dem Loslassen ist eine Geschwindigkeit von rund 10 Meter pro Sekunde erreicht, nach zwei Sekunden sind es bereits rund 20 Meter pro Sekunde. Lässt man Feder und Bleigewicht auf gleicher Höhe los, so fallen sie in trauter Eintracht nebeneinander her:
Insbesondere ist die Gravitationsbeschleunigung unabhängig von den Massen der fallenden Objekte.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt man, wenn man auf kosmischen Größenskalen die Bewegung von Objekten unter dem Gravitationseinfluss einer Zentralmasse betrachtet. Das wichtigste Beispiel ist die Bewegung der Planeten unter dem Gravitationseinfluss der Sonne – zumindest in der (durchaus guten) Näherung, in der die Gravitationseinflüsse der Planeten aufeinander vernachlässigt werden. Auch in diesem Falle lässt sich die Bewegung dadurch erklären, dass jedes Objekt beziehungsweise jeder Planet eine von seinen charakteristischen Eigenschaften, und insbesondere von seiner Masse, unabhängige Gravitationsbeschleunigung erfährt. Diese ist nun freilich nicht mehr konstant, sondern variiert mit dem Abstand zur Zentralmasse.
Masse als Gravitationsladung
Man mag den Umstand, dass sich Gravitation in Beschleunigungen äussert, als naturgegeben hinnehmen. In einer Hinsicht ist er allerdings bemerkenswert, und zwar dann, wenn man die Gravitation als Kraft beschreiben will – also naheliegenderweise mit dem gleichen Konzept, mit dem sich etwa Reibungskräfte, Stoßkräfte, elastische Federkräfte, elektrische oder magnetische Kräfte beschreiben lassen. Für die Beschreibung von Planetenbahnen und dergleichen ist die Einführung einer Gravitationskraft zwar wenig sinnvoll – dort kann man auch direkt mit Beschleunigungen rechnen. Für die Berechnung von Kräftegleichgewichten, also etwa zur Beantwortung der Frage, wie stark eine bestimmte Sprungfeder sein muss, um die Wirkung der Gravitation auf einen bestimmten Körper auszugleichen, oder wie stabil eine Mauer sein muss, um den Gravitationseinfluss der Erde auf das darüberliegende Dach kompensieren zu können, ist es dagegen durchaus nützlich, eine Gravitationskraft einzuführen.
Messen lässt sich die Gravitationskraft, die auf ein Objekt wirkt, mit der Federanordnung, die wir oben bereits zur Kraftmessung eingeführt haben – anstatt an der Feder zu ziehen, hängen wir ganz einfach ein Objekt an die Feder:
Anhand der Dehnung der Feder können wir ablesen, wie stark die Gravitationskraft ist, die das Objekt gen Erdboden zieht. Diese Gravitationskraft wird allgemein das Gewicht des betreffenden Körpers genannt.
Allerdings muss eine Gravitationskraft, die für alle frei fallenden Körper zur gleichen Schwerebeschleunigung führt, ganz bestimmte Eigenschaften haben. Die von einer Kraft hervorgerufene Beschleunigung ergibt sich, wie bereits erwähnt, zu
Beschleunigung = Kraft / (träge Masse).
Damit die Beschleunigung für alle Objekte die gleiche ist, müssen die Gravitationskräfte je nach Objektmasse variieren – konkret: die Gravitationskraft, die beispielsweise die Erde auf jedes dieser Objekte ausübt, muss proportional zu ihrer Masse sein, als Formel ausgedrückt:
Gravitationskraft = Masse · g,
wobei g ein Faktor ist, der nicht von den Eigenschaften des betreffenden Objektes abhängt. Dann nämlich geschieht folgendes, wenn man gemäß der weiter oben angegebenen Formel die Beschleunigung ausrechnet:
Beschleunigung = Gravitationskraft / Masse = (Masse · g) / Masse = g
– die Masse des fallenden Objekts kürzt sich heraus, und übrig bleibt für alle Objekte die gleiche Beschleunigung g. Diese Beschleunigung wird auch Fallbeschleunigung oder Schwerebeschleunigung genannt. Sie hat überall auf (und nahe) der Erdoberfläche ungefähr den gleichen Wert.
Den Umstand, dass die auf einen Körper wirkende Gravitationskraft – das Gewicht des Körpers – proportional zu seiner Masse ist, nützen wir im Alltag regelmäßig aus. Wir benutzen Waagen – etwa Federanordnungen wie die oben gezeigte – um das Gewicht von Objekten zu messen, und schließen daraus direkt auf die Masse, ja, üblicherweise wählen wir die Skala der Waage so, dass wir die Masse gleich ablesen können! Physikalisch gesehen ist das ein Graus – „dieser Körper hat ein Gewicht von einem Kilogramm“ ist schlicht eine Falschaussage, denn Gewicht ist eine Kraft und sollte in Krafteinheiten angegeben werden, Kilogramm dagegen ist die Einheit für die Masse. Wenn diese Gleichsetzung im Alltag trotzdem funktioniert, dann nur weil das Gewicht eines Körpers zu seiner Masse proportional ist, und weil der Proportionalitätsfaktor, die Schwerebeschleunigung, überall auf der Erdoberfläche nahezu denselben Wert hat.
Dass die Kraftstärke zu einer ganz bestimmten Objekteigenschaft proportional ist, ist in der Physik der Kräfte und Felder die Regel. Die relevante Objekteigenschaft heißt die zur Kraft gehörige Ladung des Objekts. Beispielsweise ist die elektrische Kraft, die auf ein Objekt wirkt, gegeben durch das Produkt der elektrischen Ladung des Objekts mit einer von den Objekteigenschaften unabhängigen Größe, dem elektrischen Feld (weitere Informationen zum Feldbegriff bietet das Vertiefungsthema Von der Kraft zum Feld).
Wenn die Gravitationskraft, die auf ein Objekt wirkt, das Produkt aus der Masse des Objekts und eines Faktors ist, der nicht von dem betreffenden Objekt abhängt, dann ist Masse eine Art Gravitationsladung.
Masse als Gravitationsquelle
Masse spielt noch eine weitere Rolle. Wir haben die Gravitationsladung bislang nur als Maß dafür eingeführt, wie stark die Kraft ist, die ein Testobjekt durch die Gravitation einer gegebenen Masse wie der Erde erfährt. Andererseits bestimmt die Ladung eines Objekts aber auch, wie stark die Kraft ist, die von diesem Objekt ausgeht – in diesem Falle: die Masse als Gravitationsladung bestimmt die Gravitationskraft, mit der das betreffende Objekt auf es umgebende Körper wirkt. Wenn wir diese beiden Aspekte auseinanderhalten wollen, können wir von einer aktiven und einer passiven Ladung sprechen. Die aktive Gravitationsladung der Sonne lässt sich beispielsweise durch Beobachtungen der Planetenbahnen bestimmen; die aktive Gravitationsladung einer Metallkugel lässt sich experimentell mit einem nach dem Physiker Henry Cavendish benannten Aufbau bestimmen, der hier skizziert ist:
Dabei sind die kleinen Kugeln (in der Abbildung goldfarben) an einem starren Stab (türkis) aufgehängt. Sie werden von den größeren Testmassen (violett) angezogen – allerdings gibt es da noch den Torsionsfaden (rot), an dem der Stab aufgehängt ist und der jedem Versuch, ihn zu verdrillen, einen Widerstand entgegensetzt.
Die aktive Gravitationsladung ist dabei ebenfalls zur Masse proportional. Der Proportionalitätsfaktor – er lässt sich etwa aus dem Cavendish-Experiment bestimmen, bei dem sich die Masse der anziehenden Kugeln direkt messen lässt – ist die Gravitationskonstante.
Dreierlei Masse
Masse spielt damit drei konzeptuell recht verschiedene Rollen – zum einen die einer aktiven und einer passiven Gravitationsladung, zum anderen die eines Maßes für die Trägheit eines Körpers. Oder haben wir es nicht mit drei verschiedenen Rollen, sondern mit drei verschiedenen physikalischen Größen zu tun – der trägen Masse, die bestimmt, mit welcher Beschleunigung ein Körper auf eine gegebene Kraft reagiert, und der (passiven) schweren Masse beziehungsweise der (aktiven) schweren Masse als Gravitationsladung?
Diese Unterscheidung liegt zwar nicht nahe, lässt sich aber durchaus treffen – und sei es nur, um zu sehen, ob sich derartige Unterschiede experimentell nachweisen lassen oder ob die Experimente die Gleichheit der verschiedenen Arten von Masse im Rahmen ihrer Messgenauigkeit bestätigen. Das Ergebnis zumindest aller bisherigen Experimente ist: Passive schwere Masse und träge Masse sind im Rahmen der Messgenauigkeit tatsächlich gleich. Objekte, die nebeneinander im Raum platziert und dann losgelassen werden, fallen in gleicher Weise und erfahren die gleiche Beschleunigung, unabhängig von ihrer Zusammensetzung oder ihren Eigenschaften. Dem Unterschied von aktiver und passiver schwerer Masse sind zwar nur vergleichsweise wenig Experimente gewidmet, doch auch die sprechen für eine Gleichheit der beiden Größen.
Relativitätstheorie und Schwaches Äquivalenzprinzip
In der klassischen Physik ist unklar, wie es zu dieser Gleichheit kommt. Anders in Einsteins Gravitationstheorie, der Allgemeinen Relativitätstheorie. Dort ist die Reaktion von Körpern auf Gravitationseinwirkung rein geometrisch erklärt – Massen verzerren die Geometrie von Raum und Zeit, und alle Körper folgen den geradestmöglichen Bahnen in dieser verzerrten Raumzeit. Die künstliche Zweiteilung, die aus dem Kraftbegriff folgt – die von der schweren Masse abhängende Kraft einerseits, die von der trägen Masse abhängige Reaktion darauf andererseits – wird durch ein Gesetz ersetzt, in dem die Gleichbehandlung aller Körper auf unterster Ebene eingebaut ist: Dass alle Körper in einer gegebenen Situation die gleiche Fallbeschleunigung erfahren, liegt daran, dass ihre Bewegung direkt von den Eigenschaften der sie umgebenden Raumzeit bestimmt wird.
Umgekehrt ist die Erfahrungstatsache, dass alle Körper die gleiche Fallbeschleunigung erfahren, eine Grundvoraussetzung der Einsteinschen Beschreibung. Als so genanntes „schwaches Äquivalenzprinzip“ steht er (als Teilaspekt des allgemeineren Einsteinschen Äquivalenzprinzips) ganz am Anfang jeder systematischen Beschreibung der Allgemeinen Relativitätstheorie.
Weitere Informationen
Dieses Vertiefungsthema ergänzt die Aussagen im Abschnitt Allgemeine Relativitätstheorie von Einstein für Einsteiger.
Die Grundlagen des Einsteinschen Äquivalenzprinzips (einer Verallgemeinerung des schwachen Äquivalenzprinzips) werden im Vertiefungsthema Kabine, Schwerkraft und Rakete: Das Äquivalenzprinzip besprochen. Weitere verwandte Vertiefungsthemen auf Einstein-Online finden sich in der Kategorie Allgemeine Relativitätstheorie.
Kolophon
ist Astrophysiker am Max-Planck-Institut für Astronomie, Leiter des Hauses der Astronomie in Heidelberg und Initiator von Einstein Online.
Zitierung
Zu zitieren als:
Markus Pössel, “Träge und schwere Masse” in: Einstein Online Band 04 (2010), 02-1119