Die Dialektik der Relativität

Wie der Begriff der Relativität Aussagen zusammenführen kann, die sich auf den ersten Blick widersprechen

Ein Artikel von Markus Pössel

Einige Aussagen der Speziellen Relativitätstheorie scheinen auf den ersten Blick paradox. Die vermeintlichen Widersprüche lassen sich in der Regel auf ein und dieselbe Art und Weise auflösen – dann war eine „Dialektik der Relativität“ im Spiel, auf die ich in diesem Vertiefungsthema näher eingehen möchte.

Die Relativität von „vor“ und „hinter“

Den Grundgedanken der Relativität kennen wir aus dem Alltag. Am deutlichsten zeigt er sich bei den relativen Richtungen, die wir verwenden. Wenn ich am Frühstückstisch sitze und behaupte, meine Teetasse stehe vor der Kanne, während meine Frau behauptet, diese Tasse stehe hinter der Kanne, dann ist das auf den allerersten Blick ein Widerspruch, denn wie kann die Tasse sowohl vor als auch hinter der Kanne stehen?

Teekanne und Teetasse

Der Widerspruch löst sich auf, wenn man berücksichtigt, dass vorne und hinten relative Begriffe sind, die jeder Mensch auf seinen eigenen Ort bezieht. Meine Frau und ich sitzen uns am Frühstückstisch gegenüber, Kanne und Tasse zwischen uns. Was für mich hinten ist, ist für meine Frau vorne. Das „vorne“ und „hinten“ der widersprüchlichen Aussage gehören zu zwei ganz verschiedenen Bezugssystemen. Berücksichtigt man diesen Umstand, löst sich der scheinbare Widerspruch auf.

Relativ zu: Inertialsystemen

Dasselbe Rezept hilft oft, wenn eine Aussage der Speziellen Relativitätstheorie auf den ersten Blick widersprüchlich scheint. Ein Beispiel ist das Phänomen der Zeitdilatation: Angenommen, ich treibe auf meiner Raumstation frei durch das All (im Jargon der Speziellen Relativitätstheorie ist meine Raumstation dabei ein Inertialsystem). Nun fliegt eine zweite, ebenso freie Raumstation (ein zweites Inertialsystem) mit hoher Geschwindigkeit an meiner eigenen Station vorbei. Die Zeitdilatation besteht darin, dass eine Uhr an Bord der vorbeifliegenden Raumstation aus meiner Sicht langsamer geht als meine eigenen Uhren. Andererseits sind in der Speziellen Relativitätstheorie alle frei fliegenden Raumstationen (genauer: alle Inertialsysteme) gleichberechtigt – das ist die Aussage des Relativitätsprinzips: Für alle diese Stationen gelten dieselben physikalischen Gesetze. Aus Sicht der anderen Raumstation ist es meine eigene Station, die mit hoher Geschwindigkeit vorbeifliegt, und die Konsequenzen sind die gleichen: die Uhr, die sich mit hoher Geschwindigkeit vorbeibewegt, sprich: die Uhren in meiner eigenen Raumstation, gehen aus Sicht des Beobachters in der anderen Station langsamer als seine eigenen. Da haben wir ihn schon, den scheinbaren Widerspruch, denn wie kann beides gelten – die Uhren der anderen Raumstation gehen langsamer als meine eigenen, und meine eigenen Uhren gehen langsamer als die auf der anderen Station?

Die Relativität der Gleichzeitigkeit

Wie bei den Lagebezeichnungen vorne und hinten lässt sich der Widerspruch auflösen, wenn man die Relativität der betreffenden Aussagen berücksichtigt. Entscheidend ist, dass es, will man die Ganggeschwindigkeiten zweier Uhren vergleichen, nicht ausreicht, die betroffenen Uhren ein einziges Mal abzulesen. Man muss beide Uhren schon mindestens zweimal hintereinander ablesen, wie in diesem Beispiel: Beim ersten Ablesen zeigen blaue und rote Uhr dieselbe Zeit:

Uhren ablesen: 12:30 und 12:30 Uhr

Aber das will nichts heißen, denn dieses Ablesen sagt uns noch nichts darüber, wie schnell die beiden Uhren gehen. Mag sein, dass die blaue Uhr stehengeblieben ist und alle Tage dieselbe Zeit 12:30 Uhr zeigt, während die rote Uhr normal weiterläuft und auf dem obigen Schnappschuss nur zufällig in jener einen Minute aufgenommen wurde, in der auch sie 12:30 Uhr zeigt. Ein zweiter Vergleich schafft Klarheit:

Uhren ablesen II: 12:45 und 12:43 Uhr

Zumindest in dem betrachteten Zeitintervall ist die rote Uhr tatsächlich schneller gegangen als die blaue – auf ihr sind zwischen den beiden Vergleichen 15 Minuten vergangen, auf der anderen Uhr dagegen nur 13 Minuten.

Bei Uhren, die sich relativ zueinander mit konstanter Geschwindigkeit bewegen, ist ein direkter Vergleich, bei dem sich die Uhren am selben Ort befinden, allerdings höchstens ein einziges Mal möglich. Für den notwendigen zweiten Vergleich würden sich die Uhren dann auf alle Fälle an unterschiedlichen Orten befinden. Dann kommt zwingend der Begriff der Gleichzeitigkeit ins Spiel – die Anzeige der beiden Uhren vergleichen heißt dann ja gerade, festzustellen, ob zwei Ereignisse, die an unterschiedlichen Orten stattfinden (etwa „die blaue Uhr zeigt 12:45“ und „die rote Uhr zeigt 12:45“), gleichzeitig stattfinden oder nicht. In Einsteins Theorie ist definiert, wie sich Gleichzeitigkeit mit Hilfe von hin- und hergesandten Lichtsignalen feststellen lässt (siehe das Vertiefungsthema Die Unselbstverständlichkeit des Jetzt). Es gilt aber auch die Relativität der Gleichzeitigkeit: Wenn relativ zueinander bewegte Beobachter der Einsteinschen Vorschrift folgen, Gleichzeitigkeit festzustellen, dann kommen sie im allgemeinen zu unterschiedlichen Ergebnissen.

Dort ist das Schlupfloch, durch das die Relativitätstheorie dem Widerspruch entkommen kann: Wenn ich zu dem Schluss komme, die Uhren der anderen Raumstation gingen langsamer als meine eigenen, dann lege ich beim Vergleich selbstverständlich meinen eigenen Gleichzeitigkeitsbegriff zugrunde. Kommt ein Bewohner der anderen Raumstation zu dem Schluss, meine eigenen Uhren gingen langsamer als die seinen, dann liegt diesem Vergleich sein eigener Gleichzeitigkeitsbegriff zugrunde. Wie im Falle von vorne und hinten setzt jede der beiden Aussagen ein anderes Bezugssystem voraus. Viele andere, auf den ersten Blick widersprüchliche Situationen lassen sich nach dem gleichen Rezept behandeln: Berücksichtigt man, wo in einer solchen Situation unterschiedliche Gleichzeitigkeitsbegriffe eine Rolle spielen, dann löst sich der scheinbare Widerspruch auf.

Weitere Informationen

Eine geometrische Analogie zwischen Gleichzeitigkeit in der Raumzeit und Gleichauf-sein im Raum, in der auch die Wechselseitigkeit der Zeitdilatation deutlich wird, bietet das Vertiefungsthema Zeitdilatation und Wanderschaft.

Die hier angesprochenen Fragen gehören zur Speziellen Relativitätstheorie, die in Einstein für Einsteiger im Abschnitt Spezielle Relativitätstheorie vorgestellt wird.

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Kolophon
Markus Pössel

ist Astrophysiker am Max-Planck-Institut für Astronomie, Leiter des Hauses der Astronomie in Heidelberg und Initiator von Einstein Online.

Zitierung

Zu zitieren als:
Markus Pössel, “Die Dialektik der Relativität” in: Einstein Online Band 01 (2005), 01-1102