Zeitdilatation und Wanderschaft

Wie man sich die Relativität der Gleichzeitigkeit und die Zeitdehnung anhand einer einfachen geometrischen Analogie veranschaulichen kann

Ein Artikel von Markus Pössel

Für eine Reihe relativistischer Zeit-Phänomene lassen sich einfache geometrische Bilder finden. Sie ermöglichen es bis zu einem gewissen Grade, ungewohnte Raumzeit-Phänomene in die vertrautere Umgebung des Alltagsraumes herüberzuholen und so anschaulicher zu machen.

Der Begriff der „Gleichaufigkeit“

Für jeden Wanderer auf einem geraden Weg liefert sein eigener Weg einen natürlichen Bezugsrahmen für den Rest der Landschaft. Der Wanderer kann beispielsweise davon reden, zwei Objekte in der Landschaft befänden sich „gleichauf“. Gleichauf sind zwei Objekte, wenn es einen Ort gibt, an dem für den Wanderer, der seinen Weg entlang geht, folgendes gilt: Will er die Objekte sehen, muss er seinen Kopf von seiner Marschrichtung aus exakt um neunzig Grad zur Seite drehen. Entweder nur in eine Richtung – dann stehen die Objekte aus seiner Sicht in einer Linie – oder für jedes der beiden Objekte in eine andere Richtung. Dann und genau befinden sich die beiden Objekte (und in dem betreffenden Moment auch der Wanderer selbst) gleichauf. Einige Beispiele zeigt die folgende Illustration. Aus der Vogelperspektive sind darauf der Weg des Wanderers sowie einige umliegende Bäume zu sehen:

Gleichaufigkeit von Bäumen

Mathematischer ausgedrückt: Gleichauf sind zwei Objekte genau dann, wenn die sie verbindende Gerade den Weg des Wanderers im Winkel von 90 Grad schneidet. Das ist das Konzept des Gleich-auf-seins oder, der Leser möge das etwas ungelenke Kunstwort verzeihen, der „Gleichaufigkeit“.

Zwei Wanderer vergleichen ihre Messungen

Sobald wir zwei Wanderer auf verschiedenen geraden Wegen betrachten, wird klar, dass Gleichaufigkeit für jeden der Wanderer etwas anderes bedeutet. Hier ein Beispiel mit drei Bäumen: Baum A und Baum B sind für den Wanderer auf Weg 1 (hellgrau) gleichauf, aber nicht für den auf den auf Weg 2 (dunkelgrau). Mit Baum B und Baum C verhält es sich gerade umgekehrt:

Gleichaufigkeit von Bäumen

Gleichaufigkeit ist relativ, könnte man zusammengefasst sagen: Ob zwei Objekte auf gleicher Höhe sind oder nicht, hängt vom Wanderer und seinem Weg ab.

Aus relativistischer Sicht ist an diesem Szenario die Analogie zur Speziellen Relativitätstheorie interessant. Statt mit den zwei Raumrichtungen meiner Landschaft aus der Vogelperspektive haben wir es dort mit einer Zeit- und mehreren Raumrichtungen zu tun. Statt um Wanderer, die jeweils einem Weg folgen, geht es in der Relativitätstheorie um relativ zueinander bewegte Beobachter (genauer: Inertialbeobachter – ein größerer Winkel zwischen den Wanderwegen entspricht dabei einer höheren Relativgeschwindigkeit der Beobachter). So, wie die Wanderer auf ihren Weg bezogen den Begriff der Gleichaufigkeit definieren, definiert in der Relativitätstheorie jeder Beobachter Gleichzeitigkeit – ein Kriterium, nach dem sich entscheiden lässt, ob zwei Ereignisse gleichzeitig stattfinden oder nicht. Und exakt analog zur Gleichaufigkeit erweist sich bei Einstein auch die Gleichzeitigkeit als relativ.

Soweit, so analog. Tatsächlich gilt: Wenn Physiker Raum und Zeit grafisch darstellen – in so genannten Raumzeit-Diagrammen -, dann sehen die Bezugssysteme zweier gegeneinander bewegter Beobachter genau so aus wie die beiden gegeneinander geneigten Wege, und das führt genau so direkt wie in obigem Diagramm zur Relativität der Gleichzeitigkeit.

Die Relativität des „Abstands entlang des Weges“

Aber jeder Wanderer kann nicht nur definieren, was es heißt, dass zwei Objekte gleichauf sind. Er kann auch eine auf den Weg bezogene Entfernung definieren, einen „Abstand entlang des Weges“. Für zwei Objekte ist dieser Abstand wie folgt definiert: Es gibt auf dem Weg genau einen Wegpunkt, der gleichauf liegt mit dem ersten Objekt, und einen Wegpunkt gleichauf mit dem zweiten. Der Abstand zwischen diesen beiden Wegpunkten ist der „Abstand entlang des Weges“ zwischen den beiden Objekten:

Der Abstand entlang des Wegs

Dieser Abstand entlang des Weges ist eine nützliche Information, wenn der Wanderer gerade das eine Objekt passiert und wissen möchte, wie weit er noch laufen muss, bis er an dem zweiten Objekt vorbeikommt.

Analogien zur Speziellen Relativitätstheorie

In der Raumzeit der Speziellen Relativitätstheorie kann ein Beobachter mit Hilfe des von ihm definierten Gleichzeitigkeitsbegriff Zeitintervalle zwischen Ereignissen messen. Er hält zunächst fest, was seine Uhr gleichzeitig mit dem ersten Ereignis anzeigt, dann, was sie gleichzeitig mit dem zweiten zeigt. Die Differenz dieser beiden von der Uhr abgelesenen Zeitanzeigen ist das Zeitintervall zwischen den beiden Ereignissen.

Solch ein Zeitintervall entspricht dem „Abstand entlang des Weges“ – hier eine tabellarische Gegenüberstellung:

Abstände auf dem Weg selbst kann der Wanderer direkt abmessen, ohne den Weg zu verlassen. Zeitintervalle zwischen Ereignissen, die direkt am Ort des Beobachters stattfinden, kann dieser direkt auf der mitgeführten Uhr ablesen.
Der Begriff der Gleichaufigkeit ermöglicht es, diese Abstandsmessungen auf Objekte zu übertragen, die nicht direkt auf dem Weg liegen. Der Begriff der Gleichzeitigkeit ermöglicht es, diese Zeitmessungen auf Ereignisse zu übertragen, die nicht direkt bei der mitgeführten Uhr stattfinden.
Damit kann der Wanderer dann für beliebige Objektpaare angeben, wie groß ihr Abstand-entlang-des-Weges ist – auch für solche, die fernab des Weges liegen. Damit kann der Beobachter für zwei beliebige Ereignisse angeben, welches Zeitintervall zwischen ihnen vergeht – auch für Ereignisse, die weit entfernt von ihm stattfinden.

Die Wechselseitigkeit der Abstandsverkürzung

Eine interessante Wechselseitigkeit ergibt sich, wenn wir wiederum zwei Wanderer auf verschiedenen Wegen betrachten. Ein im folgenden illustriertes Beispiel: Die Wege schneiden sich in einem Winkel von 60 Grad. Angenommen, der Wanderer auf Weg 1 steckt auf seinem Weg die Länge von einem Kilometer ab. Misst der zweite Wanderer den Abstand der beiden Endpunkte dieser Strecke, so erhält er, auf seinen eigenen Weg bezogen, einen „Abstand entlang des Weges“ von lediglich 500 Metern! Ebenso, wenn der zweite Wanderer entlang von Weg 2 eine Strecke von einem Kilometer absteckt – diesmal ist es der erste Wanderer der, wenn er die Länge der Strecke entlang seines eigenen Weges 1 misst, nur einen halb so großen Wert herausbekommt. Die Grafik zeigt, wie das zustande kommt:

Die Wechselseitigkeit der Abstandsverkürzung

Offenbar sind die unterschiedlichen Begriffe von „Gleichaufigkeit“, die die Wanderer verwenden, schuld daran, dass jeder für die vom anderen abgesteckte Strecke entlang seines eigenen Weges einen kürzeren Abstand misst.

Das Analogon dieser Wechselseitigkeit in der Speziellen Relativitätstheorie ist die Zeitdilatation: Aus Sicht jedes von zwei gegeneinander bewegten Inertialbeobachtern gehen die Uhren des jeweils anderen Beobachters langsamer als die eigenen. Wenn beispielsweise Beobachter 1 die Raumstation von Beobachter 2 mit rund 87 Prozent der Lichtgeschwindigkeit vorbeisausen sieht, dann wird er feststellen, dass für jede Sekunde, die auf der Uhr von Beobachter 2 vergeht, auf seiner eigenen Uhr ganze zwei Sekunden vergehen. Andererseits kommt Beobachter 2 für die Uhren des an ihm vorbeifliegenden Beobachters 1 zum selben Ergebnis. Wer das zum ersten Mal hört, stutzt in der Regel – ist das nicht ein Widerspruch, dass jeder der beiden Beobachter sagen kann, die Uhr des jeweils anderen liefe langsamer? Tatsächlich ist es ebensowenig widersprüchlich wie die Situation der beiden Wanderer, von denen jeder zu dem Ergebnis kommt, die Längenmessung-entlang-des-Weges des jeweils anderen Wanderers sei kürzer als seine eigene. Im zweiten Fall sind es die unterschiedlichen Gleichaufigkeits-Begriffe, die den scheinbaren Widerspruch lösen, in der Relativitätstheorie sind es die unterschiedlichen Definitionen von Gleichzeitigkeit, die die beiden Beobachter implizit anwenden. (Siehe dazu auch das Vertiefungsthema Die Dialektik der Relativität.)

Übrigens lässt sich mit der Wanderweg-Analogie auch ein wenig besser verstehen, was es mit dem im Raumschiffreisenden auf sich hat, der nach seiner Rückkehr jünger ist als sein daheimgebliebener Zwilling – diesem Teil der Analogie ist das Vertiefungsthema Zwillinge und Wanderer gewidmet.

 

Weitere Informationen

Die Grundlagen der Speziellen Relativitätstheorie, um deren geometrische Analogien es in diesem Vertiefungsthema geht, werden in Einstein für Einsteiger erklärt, insbesondere im Abschnitt Spezielle Relativitätstheorie.

Verwandte Vertiefungsthemen auf einstein-online finden sich in der Kategorie Spezielle Relativitätstheorie.

Kolophon
Markus Pössel

ist Astrophysiker am Max-Planck-Institut für Astronomie, Leiter des Hauses der Astronomie in Heidelberg und Initiator von Einstein Online.

Zitierung

Zu zitieren als:
Markus Pössel, “Zeitdilatation und Wanderschaft” in: Einstein Online Band 04 (2010), 01-1106