Multi-Messenger-Astrophysik und numerische Relativitätstheorie

Bei Neutronenstern-Verschmelzungen werden nicht nur Gravitationswellen, sondern auch elektromagnetische Signale ausgesandt. Die Multimessenger-Astrophysik wertet diese unterschiedlichen Signale gemeinsam aus und könnte so Antworten auf grundlegende Fragen der Physik liefern.

Ein Artikel von Masaru Shibata

Als am 17. August 2017 Gravitationswellen aus der Verschmelzung zweier Neutronensterne nachgewiesen wurden, begann eine neue Ära der Astrophysik. Nicht nur hatten die LIGO-Observatorien erstmals Gravitationswellen von einem solchen Ereignis aufgezeichnet, sondern Forschende auf der ganzen Welt beobachteten auch die dazugehörenden elektromagnetischen Signale. Dieser Durchbruch markierte den Beginn der Multi-Messenger-Astrophysik.

Die Kollision am Ende der Entwicklung von Neutronenstern-Doppelsystemen (also zwei Neutronensterne oder ein Neutronenstern und ein Schwarzes Loch) ist eines der interessantesten und wichtigsten Untersuchungsobjekte für die Multi-Messenger-Astrophysik. Diese Verschmelzungen sind allein deshalb schon hochspannend, weil dabei starke Raum-Zeit-Verzerrungen auftreten, die Gravitationswellen abstrahlen, und weil solche Ereignisse noch nicht vollständig verstanden sind. Obendrein könnte die Untersuchung von Neutronenstern-Verschmelzungen den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern helfen, seit langem offene Fragen der physikalischen Grundlagenforschung zu beantworten.

Was Neutronenstern-Verschmelzungen über grundlegende Fragen der Physik verraten

Eine dieser offenen Fragen betrifft die Natur der hochdichten Kernmaterie. Neutronensterne sind Objekte mit extrem hoher Dichte, die, wie der Name schon sagt, hauptsächlich aus Neutronen bestehen. Ihre genaue Zusammensetzung ist jedoch unbekannt. Gravitationswellen und elektromagnetische Signale von Neutronenstern-Doppelsystemen können Aufschluss über den Radius von Neutronensternen geben – der wiederum durch ihre Zusammensetzung bestimmt wird.

Außerdem rätseln Physikerinnen und Physiker seit langem über den Ursprung schwerer Elemente wie Gold und Uran. Sie vermuten, dass diese schweren Elemente durch die schnelle Nukleosynthese (den sogenannten r-Prozess) aus relativ leichten Elementen wie Eisen synthetisiert werden. Damit dieser Prozess ablaufen kann, braucht es eine extrem neutronenreiche (d.h. protonenarme) Umgebung, die nur unter relativistischen Bedingungen anzutreffen ist. Welches astrophysikalische Phänomen hauptsächlich für die schnelle Nukleosynthese verantwortlich ist, ist jedoch noch unbekannt. Neutronenstern-Verschmelzungen sind die vielversprechendsten Kandidaten, weil sie eine sehr neutronenreiche Umgebung bereithalten. Während einer Neutronenstern-Verschmelzung wird ein Teil der neutronenreichen Materie explosionsartig aus dem System in den interstellaren Raum geschleudert. In diesen Ejekta könnten schwere Elemente über die Nukleosynthese des r-Prozesses synthetisiert werden. Die zunächst synthetisierten schweren Atomkerne sind dabei sehr neutronenreich und daher stark radioaktiv. Sie zerfallen sehr schnell, was die ausgeworfene Materie aufheizt und zum Leuchten bringt. Beobachtet man also zusätzlich zu den Gravitationswellen mit einem elektromagnetischen Teleskop leuchtstarke Ejekta, kann man folgern, dass die Nukleosynthese des r-Prozesses bei der Verschmelzung von Neutronensternen stattfindet.

Das Periodensystem der Elemente. Eine Farbkodierung zeigt an, woher die Elemente stammen.

Periodensystem mit der Herkunft der Elemente im Sonnensystem, basierend auf Daten von Jennifer Johnson an der Ohio State University. © Cmglee, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=31761437

Multi-Messenger-Beobachtungen und numerische Relativitätstheorie

Multi-Messenger-Beobachtungen von Neutronenstern-Verschmelzungen können also helfen, eine Reihe von offenen Fragen in der Physik zu beantworten – vorausgesetzt, man hat ein zuverlässiges theoretisches Modell, das diese Art von Ereignissen mit ihrem starken Gravitationsregime und Massenauswurf beschreibt. Theoretikerinnen und Theoretiker müssen die Einsteinschen Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie zusammen mit den zugehörigen Materiegleichungen – zum Beispiel aus Hydrodynamik und Strahlungstransfer – lösen, die die Entwicklung der Neutronensternmaterie und die Neutrinoemission beschreiben. Da diese Gleichungen hochgradig nichtlinear, mehrdimensional und kompliziert sind, lassen sie sich nur mit einer groß angelegten numerischen Simulation lösen.

Erkenntnisse der numerischen Relativitätstheorie über Neutronensternverschmelzungen

Eine wichtige Erkenntnis dieser numerischen Relativitätstheorie betrifft die Art von Objekt, die aus der Kollision entsteht: Ist die Gesamtmasse des Doppelsternsystems kleiner als etwa 2,8 Sonnenmassen, so bildet sich bei der Verschmelzung ein Neutronenstern. Ist die Gesamtmasse des Doppelsternsystems größer als dieser Schwellenwert, kann die Eigengravitation des entstandenen Objekts nicht durch den Druck der Sternmaterie aufrechterhalten werden, der hauptsächlich von der Abstoßungskraft zwischen den Kernteilchen und der Zentrifugalkraft durch die schnelle Rotation des Objekts herrührt. Infolgedessen kollabiert der Stern unter seiner eigenen Schwerkraft zu einem Schwarzen Loch.

Außerdem sagt die numerische Relativitätstheorie voraus, dass der Teil der Materie, der ins All geschleudert wird, sich in einer großen Scheibe um das System sammelt – unabhängig davon, ob ein Neutronenstern oder ein Schwarzes Loch entstanden ist. Mithilfe der Simulationen lassen sich zwei Mechanismen dieses Massenauswurfs identifizieren. Binnen 10 Millisekunden nach der Kollision der beiden Körper wird direkt aus diesem Vorgang heraus Materie ausgestoßen (Merger-Ejekta). Dabei entsteht eine Materiescheibe, aus der für 0,1 bis 10 Sekunden Materie ins All geschleudert (Post-Merger-Ejekta) wird.

Mit numerischer Relativitätstheorie können Forschende die Verschmelzungs- und Massenausstoßprozesse genau berechnen. Mithilfe der Strahlungstransfersimulation, bei der der Energietransport durch Photonen berücksichtigt wird, lässt sich das elektromagnetische Signal voraussagen. Damit wiederum kann man Beobachtungen interpretieren.

Verschmelzung von Neutronensternen in drei Bildern. Das erste zeigt zwei Objekte, das zweite eine und das dritte eine Scheibe mit ausgestoßener Masse.

Ein Ergebnis der numerisch-relativistischen Simulation für das späte Inspiral (oben), die Verschmelzung (Mitte) und die Zeit nach der Verschmelzung (unten) eines binären Neutronensterns. In diesem Beispiel bildet sich nach der Verschmelzung ein massereicher Neutronenstern und ein Teil der Materie wird ausgestoßen. © S. Fujibayashi, M. Shibata (Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik)

Numerische Relativitätstheorie trifft reale Beobachtungen

Die Neutronenstern-Verschmelzung am 17. August 2017 ließ sich in vielen elektromagnetischen Wellenlängenbereichen nachweisen, vom Gamma- bis zum Radiowellenbereich. Die ausgesandten Gravitationswellen entsprachen einer Gesamtmasse des binären Neutronensterns von 2,73–2,78 Sonnenmassen, was kleiner ist als der Schwellenwert von 2,8 für die Bildung eines Schwarzen Lochs – es entstand also ein massereicher Neutronenstern.

Die numerischen Berechnungen zeichneten folgendes Bild des Ereignisses GW170817: Ein massereicher Neutronenstern im Zentrum ist von einer Scheibe umgeben. In der äußeren Region entweichen Merger- und Post-Merger-Ejekta mit subrelativistischer Geschwindigkeit von 5 bis 30 Prozent der Lichtgeschwindigkeit aus dem System.

Material sammelt sich in einer Scheibe um die Rotationsachse. Ein Beobachter nimmt ausgesandte Strahlung wahr.

Schema des Ereignisses GW170817 eine Sekunde nach der Verschmelzung.

Basierend auf diesen Erkenntnissen ist es möglich, ein Ejektamodell mit einem realistischen Dichteprofil, Geschwindigkeitsprofil, realistischer Zusammensetzung und Temperatur zu konstruieren. Im Fall von GW170817 stimmten die optischen und infraroten Beobachtungen für eine Vielzahl von Wellenlängen gut mit den theoretischen Berechnungen überein. Insgesamt wurde Materie mit einer Masse von 0,03 Sonnenmassen ausgeworfen. Außerdem liegt die Vermutung nahe, dass in den Merger-Ejekta ein erheblicher Anteil schwerer Elemente enthalten ist.

Während ihres dritten Beobachtungslaufs zeichneten die Gravitationswellendetektoren LIGO und Virgo höchstwahrscheinlich Gravitationswellen von einer weiteren Neutronenstern-Verschmelzung auf. Trotz umfangreicher sofortiger Suche, die durch ein öffentliches Meldesystem angestoßen wurde, fand man keine elektromagnetischen Signale des Ereignisses GW190425. Somit ist für die Multi-Messenger-Beobachtung eines Doppelsystems von Neutronensternen GW170817 weiterhin das bisher einzige und wichtigste Beispiel für eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen experimenteller Gravitationswellenphysik, klassischer Astronomie mit elektromagnetischer Strahlung und numerischer Relativitätstheorie.

Weitere Informationen

Kolophon
Masaru Shibata

Masaru Shibata ist Direktor der Abteilung Numerische und Relativistische Astrophysik am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Potsdam sowie Professor am Yukawa Institute for Theoretical Physics der Universität Kyoto, Japan.

Zitierung

Zu zitieren als:
Masaru Shibata, “Multi-Messenger-Astrophysik und numerische Relativitätstheorie” in: Einstein Online Band 13 (2021), 1104