Kontinuierliche Gravitationswellen
Hundert Millionen Neutronensterne sind in den Tiefen unserer Galaxie verborgen – im elektromagnetischen Spektrum sind sie nicht sichtbar. Doch mithilfe der Gravitationswellen, die sie aussenden, könnten wir sie aufspüren.
Ein Artikel von Benjamin Knispel
Kosmische Leuchttürme
Geht massereichen Sternen, die mindestens achtmal so schwer sind wie unsere Sonne, der Kernbrennstoff aus, endet ihr Leben in einer Supernova. Diese gewaltigen Explosionen bringen neue kosmische Objekte hervor: Neutronensterne. Wegen ihrer starken Magnetfelder und schnellen Eigendrehung strahlen Neutronensterne wie ein kosmischer Leuchtturm Radiowellen und Gammastrahlen aus. Und ähnlich wie Seefahrende den Leuchtturm als blinkende Lichtquelle wahrnehmen, erscheinen Neutronensterne von der Erde aus als pulsierende Radio- oder Gammastrahlenquelle – man nennt sie darum Pulsare.
Diese Objekte bestehen aus exotischer, extrem dichter Materie und sind bei einem Durchmesser von gerade mal 20 Kilometern etwa doppelt so schwer wie unsere Sonne. Ein Esslöffel voll Neutronensternmaterie würde auf der Erde so viel wiegen wie der Mount Everest. Wie sich Materie bei solchen extremen Dichten verhält und wie die innere Struktur von Neutronensternen aussieht, ist noch nicht ganz geklärt. Laut Modellen bestehen sie aus einer festen, kristallartigen äußeren Kruste von einigen hundert Metern Dicke, die hauptsächlich aus ionisierten Atomkernen und zwischen ihnen fließenden Elektronen besteht. Dringt man tiefer in das Innere des Neutronensterns vor, nimmt die Dichte an neutronenreichen Atomkernen und freien Neutronen zu. Der Kern besteht dann fast vollständig aus Neutronen.
Winzige Beulen auf Neutronensternen
Aufgrund ihrer starken Gravitation nimmt man an, dass Neutronensterne nahezu perfekt kugelförmig sind – jeder Berg würde eingeebnet, weil normale Materie der starken Gravitationskraft an der Oberfläche nicht standhalten könnte. In diesem Fall könnten sich die Neutronensterne noch so schnell drehen – sie würden keine Gravitationswellen abstrahlen. Nur wenn ein rotierender Neutronenstern nicht-achsensymmetrisch deformiert ist, sendet er Gravitationswellen aus.
Diese Verformungen können entstehen, weil die kristalline Kruste der Neutronensterne eben keine normale Materie ist: Sie ist 20-mal so hart wie Stahl und könnte daher kleine, wenige Zentimeter hohe „Beulen“ auf der Oberfläche des Neutronensterns aushalten. Diese könnten sich im turbulenten Nachgang der Supernova bilden oder wenn sich Materie aus einem kosmischen Begleiter auf der Oberfläche des Neutronensterns anhäuft. Um zu beschreiben, wie stark ein Neutronenstern verformt ist, gibt man seine „Elliptizität“ an. Sie beschreibt, wie sehr der Neutronenstern von einer perfekten Kugel abweicht. Im Falle der kristallinen Beulen kann die Elliptizität bis zu 10-6 betragen. Andere Verformungen können durch das Magnetfeld des Neutronensterns entstehen – es ist eine Milliarde Mal so stark wie das der Erde. Simulationen dieser magnetischen Verformungen zeigen, dass sie kleinere Elliptizitäten von bis zu 10-8 hervorrufen können.
Unabhängig davon, was die Verformungen verursacht: Solange sie da sind, sendet ein rotierender Neutronenstern Gravitationswellen mit der doppelten Rotationsfrequenz aus. Das ist ähnlich wie bei Doppelsystemen, wo Gravitationswellen mit der doppelten Umlauffrequenz ausgesendet werden. Etwa ein Fünftel der bekannten Neutronensterne (die als Pulsare beobachtet wurden) drehen sich mit Frequenzen von mehr als 5 Hertz (und bis zu 700 Hertz). Ihre erwartete Gravitationswellenemission liegt daher in dem Frequenzband, das von irdischen Gravitationswellendetektoren wie LIGO beobachtet wird.
Stark und vorübergehend versus schwach und kontinuierlich
Bisher sind alle von den LIGO- und Virgo-Detektoren beobachteten Gravitationswellenereignisse auf die Todestänze und Verschmelzungen kompakter Doppelsysteme zurückzuführen – also auf die Kollision zweier Schwarzer Löcher und/oder Neutronensterne. Die Gravitationswellen, die von diesen Verschmelzungen ausgesendet werden, sind kurzlebig: Sie tauchen im LIGO/Virgo-Frequenzband nur für Bruchteile einer Sekunde bis zu mehr als einer Minute auf, bevor sie enden.
Im Gegensatz dazu sind die Gravitationswellen, die von schnell rotierenden Neutronensternen ausgesendet werden, kontinuierlich und viel schwächer als die flüchtigen Signale von kompakten Doppelsystemen – mindestens um den Faktor 10.000. Dafür sind sie kontinuierlich – und das Signal ist einfach. Durch die Analyse langer Datenabschnitte können selbst sehr schwache Signale aus verrauschten Detektordaten herausgezogen werden. Ist ein Signal einmal identifiziert, kann es mit immer besseren Detektoren und Analysemethoden wiederholt beobachtet werden. Allerdings ist die Suche rechnerisch sehr anspruchsvoll.
Wie suchen wir nach kontinuierlichen Gravitationswellen?
Die von Pulsaren ausgesandten Gravitationswellen sind nahezu monochromatisch, d.h. sie haben eine einzige Frequenz, die durch die Abgabe von Energie in Form von Gravitations- und elektromagnetischen Wellen mit der Zeit abnimmt. Die Suche nach schwachen, nahezu monochromatischen Gravitationswellen im Detektorrauschen ist im Prinzip recht einfach, aber die Realität ist komplizierter und rechnerisch viel anspruchsvoller. Zwar sind die ausgesandten Gravitationswellen monochromatisch – das Signal, das auf der Erde beobachtet werden kann, ist es aber nicht. Das liegt an der Bewegung des Beobachters.
Die Detektoren befinden sich auf der Oberfläche der Erde, die sich um ihre Achse dreht. Die daraus resultierende Bewegung der Detektoren relativ zum Neutronenstern verursacht eine Dopplerverschiebung der beobachteten Gravitationswellenfrequenz, die von der Zeit und der Position des Neutronensterns relativ zum Detektor abhängt. Hinzu kommt, dass die Erde die Sonne umkreist, was eine zusätzliche Dopplerverschiebung verursacht.
Folglich müssen bei der Suche nach unbekannten Quellen kontinuierlicher Gravitationswellen Kombinationen der folgenden Parameter berücksichtigt werden, die die Signale beschreiben: Himmelsposition (zwei Parameter), Frequenz (ein Parameter), Verlangsamung der Eigendrehung („Spin-Down“, ein Parameter). Da die erwarteten Signale schwach sind, müssen lange Datenreihen, die sich über Monate erstrecken, analysiert werden. Eine winzige Abweichung in einem der Parameter würde dazu führen, dass einem möglicherweise ein im Detektorrauschen verstecktes Signal entgeht: Nimmt man eine nur geringfügig falsche Frequenz an, taucht das Signal in der Analyse nicht auf – dasselbe gilt für eine Abweichung in der Himmelsposition oder dem Spin-Down. Um diese möglichen Signalverluste zu minimieren und die Entdeckungswahrscheinlichkeit zu maximieren, werden die Daten sehr fein durchkämmt, indem man eine große Anzahl von Parameterkombinationen verwendet.
Suche am ganzen Himmel oder gerichtet
Für eine auf den ganzen Himmel bezogene Suche (Himmelsposition unbekannt) über einen großen Frequenzbereich (Frequenz und Spin-Down unbekannt) ist die bestmögliche Suche –unter Verwendung aller verfügbaren Daten in einem langen Zeitabschnitt – rechnerisch unmöglich. Die erforderliche Rechenleistung übersteigt bei weitem das, was zur Verfügung steht. Daher werden die Daten in kleinere Zeitabschnitte aufgeteilt, die dann optimal analysiert werden. Die Ergebnisse aus diesen Zeitabschnitten werden schließlich kombiniert. Im Ergebnis erhält man eine Suche, die fast so gut ist wie die optimale. Dennoch braucht es große Computercluster oder verteilte ehrenamtliche Rechenprojekte wie Einstein@Home, um diese Suchen durchzuführen.
Wenn die Himmelsposition (ungefähr) bekannt ist, ist die Anzahl der Unbekannten viel kleiner. Bei solch einer gerichteten Suche müssen nur die unbekannte Frequenz, der Spin-Down und einige benachbarte Himmelspositionen durchsucht werden. Beispiele sind die Suche nach kontinuierlichen Gravitationswellen von den zentralen Objekten in jungen Supernova-Überresten.
Wenn ein Neutronenstern als Pulsar beobachtet wurde, sind alle relevanten Suchparameter – Himmelsposition, Frequenz und Spin-Down – bekannt. In diesem Fall wird die Suche nach Gravitationswellen von diesem Objekt zu einer einfachen Aufgabe und erfordert keine großen Mengen an Rechenleistung. Diese Suche wurde genutzt, um obere Grenzen für die Stärke der abgestrahlten Gravitationswellen von bekannten Neutronensternen festzulegen.
Was könnten wir lernen und was haben wir bereits gelernt?
Der erste Nachweis von kontinuierlichen Gravitationswellen wird die ersten Einblicke in die riesige verborgene Population von Neutronensternen in unserer Galaxie ermöglichen. Bislang kennen wir nur 3000 Neutronensterne, die als Pulsare beobachtet worden sind. Wir nehmen an, dass es in der Milchstraße etwa 100 Millionen davon gibt. Kontinuierliche Gravitationswellen schaffen ganz neue Möglichkeiten, diese bislang unsichtbaren Objekte aufzuspüren und zu untersuchen. Die Beobachtung von kontinuierlichen Gravitationswellen könnte auch Aufschluss über die bisher unbekannte innere Struktur von Neutronensternen und das Verhalten von Materie unter extremen Bedingungen geben sowie unser Verständnis der Sternentwicklung verbessern.
Zwar wurde bisher noch kein kontinuierliches Gravitationswellensignal beobachtet, aber die Suche selbst hat bereits Einblicke in die Physik von Neutronensternen und die verborgene Population dieser Objekte gewährt. Das verteilte freiwillige Rechenprojekt Einstein@Home ist die empfindlichste auf den ganzen Himmel bezogene Suche nach kontinuierlichen Gravitationswellen in den LIGO-Daten. Nach der Suche in den Daten des zweiten LIGO-Beobachtungslaufs (O2) kann man Neutronensterne mit Rotationsfrequenzen über 200 Hertz und mit Elliptizitäten größer als 10-7 (die von einigen Modellen der Neutronensternkrusten vorhergesagt werden) innerhalb von 100 Parsec (d.h. 326 Lichtjahren) von der Erde ausschließen.
Andere auf den ganzen Himmel bezogene Suchen bei höheren Gravitationswellenfrequenzen schließen Deformationen von weniger als 10-8 für Neutronensterne innerhalb von 170 Parsec (554 Lichtjahre) von der Erde aus. Das entspricht Neutronensterndeformationen, die so klein sind wie ein paar menschliche Haarsträhnen!
Einstein@Home hat auch gezielt nach kontinuierlichen Gravitationswellen von den zentralen Objekten in drei Supernova-Überresten gesucht. Diese Suche nach den Überresten mit den Namen „Vela Jr.“, „Cassiopeia A“ und „G347.3“ fand in den LIGO O2-Daten ein mögliches Signal, das zu G347.3 gehören könnte. Die Daten des dritten LIGO-Beobachtungslaufs (O3), die weniger verrauscht sind als frühere Daten, sollten ausreichen, um zu testen, ob dieser mögliche Kandidat real ist oder nicht. Ähnliche LIGO-Suchen nach anderen jungen Supernova-Überresten haben keine Signalkandidaten ergeben.
Die LIGO-Suche nach Gravitationswellen von 221 bekannten Pulsaren hat kein Signal ergeben. Das Fehlen eines Signals erlaubt es den Forschern jedoch, einzugrenzen, wie viel Energie in Form von Gravitationswellen abgestrahlt wird. Verglichen mit dem gesamten Energieverlust – beobachtet durch den Spin-Down – liegen die strengsten Grenzen bei 0,02% und 0,2% für den Krebsnebel- bzw. Vela-Pulsar.
Ein Blick in die Zukunft
Während die Daten des dritten, bislang empfindlichsten Beobachtungslaufs ausgewertet werden, rüsten Forschende die aktuellen Gravitationswellendetektoren auf für deren vierten Beobachtungslauf, O4, der voraussichtlich im Sommer 2022 beginnen wird. Mit immer höherer Empfindlichkeit werden die Detektoren in der Lage sein, kontinuierliche Gravitationswellen aus immer größeren Entfernungen oder schwächere Signale von nahe gelegenen Quellen aufzufangen. So oder so wachsen die Chancen, diese fehlende Art von Gravitationswellen nachzuweisen – und damit die Möglichkeit, etwas ganz Neues über Neutronensterne, Materie unter extremen Bedingungen und unsere Milchstraße zu lernen.
Weitere Informationen
Kolophon
ist Astrophysiker und Pressereferent am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Hannover.
Zitierung
Zu zitieren als:
Benjamin Knispel, “Kontinuierliche Gravitationswellen” in: Einstein Online Band 13 (2021), 1105