Raumzeitsingularitäten

Über die vielleicht sonderbarste Vorhersage der Allgemeinen Relativitätstheorie – pathologische Grenzen der Raumzeit, so genannte Singularitäten.

Ein Artikel von Claes Uggla

Die wohl drastischste Konsequenz von Einsteins Beschreibung der Gravitation mit Hilfe gekrümmter Raumzeitgeometrie im Rahmen seiner Allgemeinen Relativitätstheorie ist die Möglichkeit, dass Raum und Zeit „Löcher“ oder „Ränder“ aufweisen können: Raumzeitsingularitäten.

Ein abruptes Ende

Dabei ist es gar nicht so einfach, zu definieren, was denn nun eine Raumzeitsingularität ist. In anderen Theorien der Physik sind Singularitäten als „pathologisches Verhalten“ eines gegebenen Modells definiert, das sich allerdings auf der üblichen Bühne von Raum und Zeit abspielt. Zum Beispiel könnte es sein, dass ein Modell, welches die Eigenschaften einer Flüssigkeit oder eines Gases beschreibt, vorhersagt, dass der Druck unter bestimmten Bedingungen unendlich groß werden sollte – im klaren Widerspruch zu den wirklichen Verhältnissen. In der Allgemeinen Relativitätstheorie ist es stattdessen die Raumzeit selbst, die pathologische Eigenschaften aufweist – und dafür gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten.

Nach der heute allgemein üblichen Definition lässt sich eine Raumzeitsingularität definieren, indem man Teilchen im freien Fall betrachtet – sowohl herkömmliche Materie wie auch masselose Teilchen wie Photonen. In der Allgemeinen Relativitätstheorie wirkt auf solche frei fallenden Teilchen per Definition nur die Gravitation – sie sind völlig unbeeinflusst durch etwaige andere Kräfte. Solche Teilchen bewegen sich auf geradestmögliche Weise durch die Raumzeit, auf Bahnen, die in der Mathematik Geodäten heißen. Mit einer Raumzeitsingularität haben wir es dabei immer dann zu tun, wenn die Existenz eines dieser Teilchen ein abruptes Ende findet und das Teilchen einfach verschwindet – oder wenn seine Existenz abrupt beginnt und solch ein Teilchen aus dem Nichts entsteht! Da sich solche Teilchen, wie gesagt, auf Geodäten bewegen und da das abrupte Ende oder der abrupte Anfang eines der Teilchen dem abrupten Ende oder Anfang einer solchen Geodäte entspricht, heißt dieses Phänomen auch „geodätische Unvollständigkeit“.

Um eine ungefähre Vorstellung davon zu bekommen, worum es geht, mag die nachfolgende Analogie hilfreich sein: Stellen Sie sich ein Blatt Papier vor – eine einfache, zweidimensionale Fläche. Eine Geodäte auf diesem Blatt Papier ist eine Gerade. Die geodätische Bewegung eines Teilchens im freien Fall lässt sich auf dem Papier nachstellen, indem man ein Lineal anlegt und eine solche Gerade zu zeichnen beginnt. Auf einem unendlich ausgedehnten Blatt Papier könnten wir diese angefangene Gerade endlos weiterzeichnen, entsprechend einem Teilchen, das immer weiter fällt:

Geodätische Bewegung – Analogie: Verlängerung eines existierenden Geradenstücks mit Bleistift und Lineal

Geodätische Bewegung – Analogie: Verlängerung eines existierenden Geradenstücks mit Bleistift und Lineal

Anders, wenn unser Papier ein Loch oder einen Rand hat, wie in der folgenden Animation:

Geodätische Unvollständigkeit – Analogie: Eine gemalte Gerade kann nicht über den Rand eines Papiers hinaus verlängert werden

Geodätische Unvollständigkeit – Analogie: Eine gemalte Gerade kann nicht über den Rand eines Papiers hinaus verlängert werden

Wo kein Papier ist, gibt es auch keine Möglichkeit, das Geradenstück weiter zu verlängern, und die Linie bricht dort ohne Warnung ab – die Geodäte ist unvollständig.

Die Aussage, dass das plötzliche Verschwinden oder Auftauchen von Teilchen sehr merkwürdig ist, dürfte auf breite Zustimmung stoßen. Im Englischen, wo der Begriff „singulär“ unter anderem „sehr ungewöhnlich“ und „sonderbar“ bedeutet, ist das Grund genug, solch eine pathologische Raumzeitstruktur als singulär zu bezeichnen; auch im Deutschen wurde diese Bezeichnung übernommen.

Nur nebenbei sei angemerkt, dass diese Definition einer Singularität mitnichten alle vorstellbaren Raumzeiten mit pathologischen Eigenschaften einschließt. In einer Raumzeit die, unserer Definition gemäß, frei von Singularitäten ist, in der sich also Teilchen im freien Fall normal verhalten, könnte es immer noch vorkommen, dass beispielsweise beschleunigt bewegte Teilchen – etwa eine beschleunigende Rakete, mit laufendem Düsenantrieb und damit definitiv nicht im freien Fall – plötzlich verschwinden. Solche andersartigen Raumzeit-Merkwürdigkeiten, die außerhalb unserer Singularitäten-Definition liegen, sollen uns allerdings im folgenden nicht weiter beschäftigen – zurück also zu den unvollständigen Geodäten:

Regel oder Ausnahme?

Kommen geodätisch unvollständige Raumzeiten in der Allgemeinen Relativitätstheorie tatsächlich vor? Oder könnte es vielleicht sein, dass die Einstein-Gleichungen solche singulären Raumzeiten gar nicht erst zulassen? Und wenn doch, hätten singuläre Raumzeiten praktische Konsequenzen, oder wären sie nur realitätsfremde, rein mathematische Konstrukte? Letzteres könnte der Fall sein, wenn Singularitäten nur in extrem vereinfachten Modellen aufträten – ein hypothetisches Beispiel dafür: Es wäre möglich, dass nur beim Kollaps eines perfekt kugelsymmetrischen Sterns zu einem Schwarzen Loch im Inneren des Schwarzen Loches eine Singularität entsteht. In der wirklichen Welt jedoch wird eine Situation mit perfekter Symmetrie niemals auftreten – es wird immer zu kleineren oder größeren Abweichungen von der Symmetrie kommen.

Tatsächlich aber zeigt sich, dass Singularitäten in der Allgemeinen Relativitätstheorie nicht nur zugelassen sind, sondern dass sie in einer Vielzahl realistischer Modelle auftreten – etwa beim Beginn eines expandierenden Weltalls wie des unseren („Urknallsingularität“) und im Inneren Schwarzer Löcher (auch solcher, die sich durch realistisch-unsymmetrischen Kollaps gebildet haben). Dass Singularitäten solchermaßen unter recht allgemeinen Bedingungen auftreten, ist Inhalt der berühmten Singularitätentheoreme. Die ersten und bekanntesten dieser Theoreme wurden Mitte der sechziger Jahre von Roger Penrose und Stephen Hawking bewiesen.

Die Stärke dieser Theoreme liegt darin, dass sie unter sehr allgemeinen Bedingungen zutreffen. Ihre Beweise benutzen nur eine von mehreren Einstein-Gleichungen sowie einige aus physikalischer Sicht durchaus vernünftige Annahmen über die Eigenschaften von Materie. Diese Stärke ist aber gleichzeitig eine Schwäche – aus diesen wenigen Annahmen lässt sich zwar ableiten, dass Singularitäten auftreten, aber sie lassen kaum Rückschlüsse auf die Eigenschaften der Singularitäten zu. Insbesondere geben sie uns keine Informationen dazu, wie die Geburt unseres Universums vonstatten ging oder was passiert, wenn man in ein Schwarzes Loch fällt.

Zweierlei Arten von Singularität

Was also sind die charakteristischen Eigenschaften dieser Singularitäten? Als Erstes erweist es sich als nützlich, die Raumzeitsingularitäten in zwei Arten einzuteilen: Krümmungssingularitäten, bei denen die Krümmung der Raumzeit unendlich groß wird, und Singularitäten, bei denen dies nicht passiert.

Krümmung hängt in Einsteins Theorie untrennbar mit Gravitation zusammen, und Krümmungssingularitäten entsprechen damit so etwas wie „unendlich starker Gravitation“. Dabei gibt es wiederum mehrere Möglichkeiten, wie Gravitation unendlich stark werden kann. Beispielsweise könnte die Energiedichte unendlich groß werden – die entsprechende Krümmungssingularität heißt „Ricci-Singularität“, nach dem italienischen Mathematiker Gregorio Ricci-Curbastro, der Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der Differentialgeometrie spielte. Als Beispiel für eine Ricci-Singularität zeigt die folgende Abbildung die Evolution der Energiedichte im frühen Universum, wie sie die Urknallmodelle vorhersagen. Darin ist die Dichte gegen die kosmische Zeit aufgetragen. Geht man immer weiter in die Vergangenheit – im Diagramm von rechts nach links -, dann nimmt die Dichte immer weiter zu, und zur kosmischen Zeit Null – beim Urknall – war sie unendlich hoch:

Dichteentwicklung in einem Urknalluniversum. Links im Diagramm, beim Urknall, wird die Dichte unendlich gross

Ebenso ist möglich, dass zwar nicht die Energiedichte unendlich groß wird, dass dafür aber die Gezeitenkräfte (unterschiedlich starke Gravitationskräfte, die ein ausgedehntes Objekt in bestimmte Richtungen stauchen oder strecken) unendlich stark werden – eine „Weyl-Singularität“, benannt nach dem deutschen Mathematiker Hermann Weyl, der kurz nach Einsteins erster Veröffentlichung zu den Ersten gehörte, die das Wechselspiel von Relativitätstheorie und Differentialgeometrie erforschten.

Nun zu der zweiten Art von Singularität. Ein einfaches Beispiel für eine Singularität, die keine Krümmungssingularität ist, ist eine so genannte konische Singularität: Man nehme eine flache Raumzeitregion (also eine Region ganz ohne Gravitation und deren verzerrende Wirkung), schneide daraus eine keilförmige Region heraus und klebe die Schnittflächen zusammen. Auch dafür gibt es ein analoges zweidimensionales Beispiel – man nehme ein Blatt Papier und bastele sich daraus eine Kegelfläche:

Konische Singularität – Analogie: Eine gerade Linie auf einer Kegelfläche, die direkt auf die Kegelspitze zeigt, kann nicht über diesen Punkt hinaus fortgesetzt werden.

Konische Singularität – Analogie: Eine gerade Linie auf einer Kegelfläche, die direkt auf die Kegelspitze zeigt, kann nicht über diesen Punkt hinaus fortgesetzt werden

In diesem Fall ist die Krümmung überall identisch Null – das Papier ist flach und eben. Trotzdem gibt es an der Kegelspitze eine Singularität: Eine gerade Linie, direkt auf die Kegelspitze zuläuft, kann nicht über die Spitze hinaus fortgesetzt werden – diese Linie ist geodätisch unvollständig.

Dieses Beispiel zeigt, wie es selbst im flachen Raum singuläre Löcher oder Ränder geben kann. Dennoch ist es sehr unwahrscheinlich, dass diese Art von Singularität in der Physik von Bedeutung ist. Im Gegenteil ist zu erwarten, dass die physikalisch interessanten Singularitäten Krümmungssingularitäten sind, die mit extrem starker Gravitation im frühen Universum oder im Inneren Schwarzer Löcher zusammenhängen.

Um zu verstehen, was passiert, wenn ein Beobachter auf solch eine „physikalische“ Singularität trifft, ist mehr Information vonnöten, als sie die Singularitätentheoreme liefern. Das macht es recht schwierig, die Frage nach den Eigenschaften physikalischer Singularitäten zu beantworten, und die Suche nach all dem, was in punkto Raum und Zeit schiefgehen kann, ist nach wie vor ein hochaktives Forschungsgebiet.

Weitere Informationen

Relativistische Hintergrundinformationen zu diesem Vertiefungsthema bietet unsere Einführung Einstein für Einsteiger, insbesondere das Kapitel Allgemeine Relativitätstheorie.

Verwandte Vertiefungsthemen finden sich in der Kategorie Allgemeine Relativitätstheorie.

Kolophon
Claes Uggla

ist Professor für theoretische Physik an der Universität Karlstad.

Zitierung

Zu zitieren als:
Claes Uggla, “Raumzeitsingularitäten” in: Einstein Online Band 02 (2006), 02-1117