Tiefe Blicke ins Zentrum der Milchstraße

Das Schwarze Loch im Zentrum unserer Milchstraße verrät sich durch die Sternbewegungen in seiner Nähe. Mit dem Very Large Telescope Interferometer lassen sie sich mit hoher Genauigkeit beobachten.

Ein Artikel von Denise Müller-Dum und Jens Kube

Im Zentrum unserer Milchstraße befindet sich ein extrem massereiches Schwarzes Loch. Seine intensive Radiostrahlung führte zur Bezeichnung Sagittarius A*: Die stärkste (A) Radioquelle im Sternbild Schütze (Sagittarius). Dass es sich bei dieser Radioquelle tatsächlich um ein Schwarzes Loch handelt, hat sich durch Sternbewegungen bestätigt, die Forschende seit den 1990er Jahren beobachtet haben. Aus den Umlaufbahnen der Sterne bestimmten sie die Ausdehnung und Masse des zentralen Objekts. Aus dem Ergebnis schlossen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, es handle sich um ein Schwarzes Loch. Für diese Erkenntnis erhielten Andrea Ghez (University of California in Los Angeles, USA) und Reinhard Genzel (Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Physik in Garching, Deutschland) 2020 zusammen mit dem Theoretiker Roger Penrose den Nobelpreis für Physik.

Hohes Zoom im Verbund

Die Sternbewegungen im Zentrum unserer Galaxie werden auch weiterhin genau verfolgt und können dabei immer präziser vermessen werden. Mithilfe des Very Large Telescope Interferometer (VLTI) können Astronominnen und Astronomen nun 20-mal näher an das Zentrum unserer Galaxie heranzoomen als zuvor.

Das VLTI besteht aus den vier Teleskopen des Very Large Telescopes (VLT) der Europäischen Südsternwarte in Chile, mit denen Nobelpreisträger Genzel seine Beobachtungen gemacht hatte. Zusammen mit vier weiteren, kleineren Spiegeln sammeln die je acht Meter messenden Teleskope das Licht, das für die VLT-Interferometrie überlagert wird. Als Interferometer dient ein Instrument mit dem Namen GRAVITY, das seit 2016 im Betrieb ist. Es erlaubt eine besonders hohe räumliche Auflösung, die der eines Einzelteleskops mit 120 Metern Durchmesser entspricht. Damit ermöglichte die Technologie eine Reihe neuer Entdeckungen.

Das Paranal-Observatorium mit den vier 8,2 Meter großen Teleskopen des Very Large Telescopes, den vier kleineren Spiegeln und dem VLT Survey Telescope. Credit: ESO/G.Hüdepohl

Sternenbahnen genau vermessen

So belegten Forschende beispielsweise 2020 einen Effekt der Allgemeinen Relativitätstheorie: Sie zeigten, dass die Bahn des Sterns S2 keiner Ellipse folgt, wie von der Newtonschen Gravitationstheorie vorhergesagt. Vielmehr erfährt die Bahn selbst eine Rotation, sodass sie die Form einer Rosette bekommt. In unserem Sonnensystem ist dieser Effekt besonders ausgeprägt bei der Bahn des Merkurs um die Sonne zu beobachten. Mit ihren Beobachtungen vom Zentrum der Milchstraße wiesen die Forschenden diese sogenannte Schwarzschild-Präzession erstmals an einem Schwarzen Loch nach.

Künstlerische Darstellung der Umlaufbahn des Sterns S2: Er bewegt sich nicht in einer Ellipse um das Schwarze Loch, sondern in einer Rosette. Credit: ESO/L. Calçada

Zwischen März und Juli 2021 nahmen Astronominnen und Astronomen die Sterne im galaktischen Zentrum erneut in den Blick. Tatsächlich verhalten diese sich exakt so, wie von der Allgemeinen Relativitätstheorie vorhergesagt – für Objekte, die um ein Schwarzes Loch mit einer Masse von 4,3 Millionen Sonnen kreisen. Damit konnten die Forschenden die Masse des Schwarzen Lochs auf diesen Wert präzisieren. Und auch seine Position konnten sie genauer bestimmen: Demnach ist das Zentrum unserer Milchstraße 27.000 Lichtjahre von uns entfernt.

Ein Rekord und eine neue Entdeckung

Während der Beobachtungen zog der Stern S29 in Rekordnähe am Schwarzen Loch vorbei: Mit einer Geschwindigkeit von 8740 Kilometern pro Sekunde passierte er Sagittarius A* in einer Entfernung von 13 Milliarden Kilometern. Das ist fast das Dreifache des Abstands des äußersten Planeten Neptun von der Sonne. Stand 2022 hatten Forschende noch nie einen Stern beobachtet, der dichter oder schneller am Schwarzen Loch vorübergezogen wäre. Das zentrale Objekt kann also nicht größer als die beobachtete Minimalentfernung von S29 zum Zentrum sein.

Auch ein bis dahin noch nicht beobachteter Stern gelangte in das Sichtfeld der Astronominnen und Astronomen: S300, der aufgrund seines schwachen Lichts bis 2021 unentdeckt geblieben war, konnten sie mit dem VLTI sichtbar machen.

Animierte Sequenz der VLTI-Aufnahmen. Credit: ESO/GRAVITY collaboration/L. Calçada

Immer empfindlicher, immer näher

Eine Frage konnten die Forschenden jedoch noch nicht beantworten: Wie schnell sich das Schwarze Loch im Zentrum unserer Milchstraße um sich selbst dreht. Doch auch das soll in Zukunft möglich werden: GRAVITY wird derzeit zu GRAVITY+ weiterentwickelt mit dem Ziel, die Empfindlichkeit des Instruments weiter zu steigern. So sollen noch weitere Sterne auf noch engeren Umlaufbahnen um das Schwarze Loch sichtbar werden. Diese Objekte wären dem Schwarzen Loch dann so nahe, dass sie die durch dessen Rotation verursachten Gravitationswirkungen spüren würden.

Weitere Informationen

Kolophon
Denise Müller-Dum

ist Physikerin und Geowissenschaftlerin und arbeitet als Wissenschaftskommunikatorin in Bremen.

Jens Kube

ist Astrophysiker und freier Wissenschaftskommunikator. Seit 2018 ist er Redakteur bei Einstein Online.

Zitierung

Zu zitieren als:
Denise Müller-Dum und Jens Kube, “Tiefe Blicke ins Zentrum der Milchstraße” in: Einstein Online Band 14 (2022), 1101