Was Eiskunstläufer, Planeten und Neutronensterne gemeinsam haben

Zur so genannten Drehimpulserhaltung und einigen ihrer physikalischen Konsequenzen für Neutronensterne, Schwarze Löcher und für die Materiescheiben darum herum

Ein Artikel von Markus Pössel

So chaotisch Teilchen durcheinanderfliegen mögen – nach den grundlegenden Gesetzen der Physik besitzen zumindestens einige Größen eine beruhigende Konstanz. Ein bekanntes Beispiel ist die Energie: In komplexen Reaktionen mag Energie von einer Form in die andere umgewandelt werden, von Strahlungsenergie zu Wärmeenergie, von elektrischer Energie zu Bewegungsenergie, aber die Summe all dieser Teilenergien, die Gesamtenergie, ist konstant und unveränderlich. Energie mag einem System zugeführt oder entzogen werden, aber weder verschwindet sie einfach noch taucht sie jemals aus dem Nichts auf.

Energie ist bei weitem nicht die einzige „Erhaltungsgröße“, deren Gesamtwert sich mit der Zeit nicht ändert. Eine weitere – und ebenfalls sehr wichtige – ist der so genannte Drehimpuls. Er führt uns direkt zu den Gemeinsamkeiten zwischen Eiskunstläufern, Planeten und Neutronensternen.

Drehimpuls

Für einen Körper, der um ein Zentrum oder eine Achse kreist, ist der Drehimpuls definiert als seine Masse mal seinem Abstand von Zentrum bzw. Achse mal seiner Umlaufgeschwindigkeit. Daraus lässt sich ableiten, wie ein Eiskunstläufer eine rasche Pirouette drehen kann. Zunächst vollführt er eine langsame Drehung mit ausgestreckten Armen und Beinen:

Eiskunstläufer mit ausgestreckten Armen und Beinen

Den einzelnen Partien seines Körpers, die alle an der Drehung um die senkrechte Achse teilnehmen, kommt dabei jeweils ein gewisser Drehimpuls zu, jeweils berechnet als Produkt der Masse der betreffenden Körperpartie mal ihrem Abstand von der Drehachse mal die Geschwindigkeit, mit der sie um die Achse rotiert.

Zieht der Eiskunstläufer nun seine Arme und Beine zur Drehachse hin, so wird der Abstand zur Drehachse für die betreffenden Körperpartien deutlich kleiner. Der Gesamtdrehimpuls muss aber vorher und nachher derselbe bleiben – der Eiskunstläufer gibt während seiner Aktion nur äußerst geringe Mengen an Drehimpuls an seine Umgebung ab (indem er etwa die umgebende Luft ein wenig zum Mitrotieren bringt). Einer der Faktoren des Drehimpulses der betreffenden Körperteile – der Abstand zur Drehachse – ist nun aber deutlich kleiner als vorher. Wenn der Gesamtdrehimpuls derselbe bleiben soll, muss einer der anderen Faktoren größer werden als vorher: Die Geschwindigkeit der Drehung erhöht sich deutlich – der Eiskunstläufer rotiert nach dieser Aktion deutlich schneller als vorher:

Eiskunstlaeufer mit angezogenen Armen und Beinen

Der Eiskunstläufer ist vergleichsweise alltagsnah, aber nicht unkompliziert – will man wissen, um wieviel schneller er sich dreht, muss man die Beiträge seiner verschiedenen Körperteile aufaddieren.

Planetenbahnen

Eine einfachere Situation ist die eines einsamen Planeten, der um die Sonne kreist – auf der für Planeten typischen Ellipsenbahn, die ihn einmal etwas näher an die Sonne heranführt, einmal etwas weiter von ihr weg, wie hier (freilich nicht maßstabsgetreu) skizziert:

Planet auf Ellipsenbahn

Was den Planeten auf seiner Bahn hält, ist die Gravitationswirkung der Sonne, und er ist von seiner weiteren Umgebung fast perfekt isoliert. Damit folgt aus den Gesetzen der Mechanik, dass der Drehimpuls des Planeten in Bezug auf den Ort der Sonne – sprich, die Planetenmasse mal seine Bahngeschwindigkeit mal sein Abstand zur Sonne – sich mit der Zeit nicht ändert. Nun wird der Abstand zur Sonne aber, wie in obiger Skizze sehen, an einer Stelle der Bahn besonders klein (rechter Abbildungsteil). Damit der Drehimpuls konstant bleibt, muss ein anderer der Faktoren im Produkt größer werden: die Bahngeschwindigkeit des Planeten. (Dass dabei auch die (relativistische) Masse ein wenig zunimmt, fällt bei den typischen Geschwindigkeiten, die Planeten erreichen, nicht ins Gewicht.)

Das Ergebnis ist ein Grundgesetz der Planetenbewegung, das so genannte zweite Keplersche Gesetz: Auf den sonnennäheren Abschnitten seiner Bahn bewegt sich ein Planet schneller, auf den sonnenferneren Abschnitten langsamer – gerade so, dass die Konstanz seines Drehimpulses gewährleistet ist.

Rotierende Sternleichen

Zu schnellerer Umlaufgeschwindigkeit kommt es aber nicht nur, wenn Eiskunstläufer ihre Extremitäten anziehen oder Planeten der Sonne nahe kommen. Besonders beeindruckende Beispiele bietet der Kollaps von Sternen, die ihren Kernfusionsbrennstoff verbraucht haben und deren Kernregionen unter dem Einfluss ihrer eigenen Gravitation in sich zusammenfallen. Üblicherweise rotieren Sterne ein wenig – unsere Sonne beispielsweise dreht sich rund einmal pro Monat um sich selbst (näherungsweise – bei genauerem Hinschauen sieht man, dass nicht alle Sonnenregionen gleich schnell rotieren). Auch für das kollabierende Sterninnere gilt die Drehimpulserhaltung. (Der Vollständigkeit halber sei angemerkt: Gravitationswellen, die durchaus entstehen können, wenn der Sternkollaps asymmetrisch von statten geht, können prinzipiell keinen Drehimpuls forttragen.)

Der Gesamtdrehimpuls bleibt erhalten, und entsprechend wiederholt sich das Phänomen der Rotationsbeschleunigung: Wenn das Produkt aus Achsenabstand und Rotationsgeschwindigkeit (Drehimpuls) gleichbleiben soll, aber einer der Faktoren, der Achsenabstand deutlich kleiner wird (die Zentralregion kollabiert und zieht sich zusammen), dann muss entweder in gewaltigem Ausmaß Drehimpuls an die äußeren Sternschichten weitergegeben werden, oder aber der andere Faktor muss entsprechend zunehmen – die Rotationsgeschwindigkeit muss deutlich schneller werden. Beim Kollaps gibt es allerdings keine Möglichkeit für die Kernregion, Drehimpuls in ausreichender Menge nach außen abzugeben – dementsprechend tritt der zweite Fall ein: Das Endprodukt des Kollaps wird ein kompaktes Gebilde sein, dass sich äußerst rasch dreht. Ein Beispiel sind Neutronensterne: Wenn aus dem Zusammenfallen der Kernregionen eines massereichen Sterns ein Proto-Neutronenstern entsteht, dürfte er sich bis zu einige hundert Male pro Sekunde um sich selbst drehen. Auch ein Schwarzes Loch, das aus dem Kollaps eines massereichen Sterns entsteht, dürfte aufgrund der Drehimpulserhaltung sehr schnell rotieren.

Akkretionsscheiben

Als letztes, freilich recht kompliziertes Anwendungsbeispiel für die Drehimpulserhaltung seien Akkretionsscheiben genannt, rotierende Materiescheiben, die sich bilden, wenn ein kompaktes, gravitationsstarkes Objekt wie ein Neutronenstern oder ein Schwarzes Loch Gas oder andere Materie aus seiner Materie an sich zieht. Für die in der Scheibe umlaufende Materie gilt: wenn sie nach innen in Richtung der Gravitationsquelle wandert, muss sie entweder aufgrund der Drehimpulserhaltung schneller umlaufen oder Drehimpuls an ihre Umgebung abgeben. Das Ergebnis ist eine Scheibe, in der die Materie immer schneller umläuft, je näher sie dem Zentralobjekt kommt – wobei es den innersten Materiepartikeln gelingt, gerade soviel Drehimpuls nach außen zu transportieren, dass sie auf die Oberfläche des Zentralobjekts (oder in das Schwarze Loch) fallen kann. (Mehr zu solchen Akkretionsscheiben bietet das Vertiefungsthema Glühende Scheiben – wie Schwarze Löcher ihre Nachbarschaft zum Leuchten bringen.)

 

Weitere Informationen

Die hier vorgestellten Konsequenzen der Drehimpulserhaltung sind im Rahmen von Einstein Online vor allem im Zusammenhang mit Schwarzen Löchern und Neutronensternen interessant. Eine Einführung in dieses Teilgebiet der relativistischen Physik bietet Einstein für Einsteiger, insbesondere im Abschnitt Schwarze Löcher & Co..

Kolophon
Markus Pössel

ist Astrophysiker am Max-Planck-Institut für Astronomie, Leiter des Hauses der Astronomie in Heidelberg und Initiator von Einstein Online.

Zitierung

Zu zitieren als:
Markus Pössel, “Was Eiskunstläufer, Planeten und Neutronensterne gemeinsam haben” in: Einstein Online Band 04 (2010), 02-1107